„Muttertier“ im Kammertheater

Mutti, du röchelndes Monster!

Leo Lorena Wyss’ Kurzdrama „Muttertier“ erzählt vom Alltag dreier Kinder mit einer psychisch Erkrankten. Lilly Meyer hat es im Foyer des Stuttgarter Kammertheaters inszeniert.

Marietta Meguid,  Karl Leven und Josephine Köhler spielen drei Geschwister.

© Björn Klein

Marietta Meguid, Karl Leven und Josephine Köhler spielen drei Geschwister.

Von Kathrin Horster

Drei Geschwister, „groß, mittel, klein“, zwei Mädchen, ein Junge, davon „eine Bestimmerin“ und eine, die immer einen Fliegenschwarm im Kopf hat, „so dumme Fliegen, die den Ausgang nicht finden/ die ständig so gegen die Gehirnwand prallen/ ständig so/ peng peng“. Der Junge stopft Gummischlangen und Erdnussflips in sich hinein und mag es nicht, wenn die Schwester mit den Fliegen im Kopf das Video vom ollen Kinohit „Titanic“ immer genau dann studiert, wenn sich die Heldin des Films entblättert.

Jeder Mensch kennt solche Eckpunkte der Kindheit; erinnert sich an den Geruch von Schwimmbad-Chlor, an Fritten und Gummibärchen, an improvisierte Spiele auf dem Garagenhof. Diese Eckpunkte sind wichtig in Leo Lorena Wyss’ Kurzdrama „Muttertier“ „für drei Geschwisterstimmen“, wie es im Textbuch heißt. Ohne sie wäre der Plot des kleinen Sprachkunstwerks ziemlich düster, weil die titelgebende Gebärerin und Ernährerin aus der kindlichen Perspektive oft an ein unberechenbares Monster erinnert, das hinter verschlossener Tür atmet und röchelt, Tabletten aus knisternder Blisterpackung fummelt und fast jeden Tag Fischstäbchen in die Fritteuse wirft, bevor es die Gören sich selbst überlässt.

Inszenierung auf schwarzen Stufen

Lilly Meyer, Regieassistentin am Schauspiel Stuttgart, hat Wyss’ Text über eine psychisch verletzte, abwesende Mutter und deren vernachlässigte Kinder im Foyer des Stuttgarter Kammertheaters inszeniert, in einer Ecke auf den mit sich bauschenden, schwarzen Stoffbahnen ausgelegten Stufen, die sonst nach oben in den Saal führen. Auf der Treppenempore regredieren die zu Beginn des Textes erwachsenen Geschwister ins Vor- und Grundschulalter. Wattierte Kostümteile zitieren vergangene Spielmoden, verweigern gleichzeitig aber jeden konkreten Zeitbezug.

Anlass des geschwisterlichen Zusammentreffens ist ein Selbstmordversuch der Mutter, die nun im Koma liegt und von Ärzten betreut wird. „Wissen Sie, wie es dazu kommen konnte?“ – Anhand dieser Frage entrollen die Geschwister ihre Erinnerungen an eine Frau mit grausamen Stimmungsschwankungen, die mal aus einer Laune heraus die Kinder ins Freibad karrt und auf dem Weg Süßigkeiten und Zigaretten kauft, während aus dem Autoradio Gianna Nanninis „Bello e impossibile“ donnert, nur um sie kurz darauf zu ohrfeigen. Literarisch interessant wird der an emotionalen Details reiche Text, weil Leo Lorena Wyss ihre kargen Sätze selten zu Ende führt oder überlappen lässt. Das klingt oft wie Stottern, als trauten sich die Figuren nicht auszusprechen, was sie sagen wollen.

Schön sind auch wiederkehrende onomatopoetische Motive; die lautmalerische Imitation eines schlürfenden Strohhalmes am Grund eines Getränkekartons und der saugende Ton einer Beatmungsmaschine, vorgeführt von den Spielenden. In Lilly Meyers Inszenierung sprechen die Geschwister oft chorisch, etwa, wenn die drei gemeinsame Erinnerungen teilen.

Väter kommen nicht vor

Das folgt zwar einer gewissen Logik – im gemeinsamem Sprechen vergegenwärtigen sich die Kinder, was alle genau so erlebt haben – es kann aber auch zur Masche werden, mit der sich effektvoll Sprach-Virtuosität und szenische Spannung herstellen lässt, wenn sonst nicht viele inszenatorische Mittel zur Verfügung stehen.

Der artifiziellen Verfremdung setzt Meyer jedoch das authentisch überlaute Kinderspiel ihres Ensembles entgegen, wenn sich Marietta Meguid, Josephine Köhler und Karl Leven Schroeder mit Verve, ohrenbetäubendem Gebrüll und lustigem Gesichtsgulasch in infantile Fantasiewelten versenken. Gut gelingen sekundenschnelle Perspektivwechsel, wenn etwa das Muttertier aus dem Koma heraus die Anstrengungen der Mutterschaft beschwört; die Verletzungen und die Müdigkeit nach der Geburt, die Unfähigkeit, das rote, schreiende Bündel anzunehmen, die zermürbende Versorgungsroutine in den folgenden Jahren. Und doch da ist für die Tochter, als die selbst Mutter wird. Väter kommen übrigens nicht vor; als sei der Prozess des Großziehens und Aufwachsens ausschließlich eine Angelegenheit zwischen Müttern und Kindern. Das gibt zu denken.

Termine: 2., 13., 24., 27.6. und 5., 12.7., jeweils um 20 Uhr. Info: www.schauspiel-stuttgart.de

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Erstellt:
26. Mai 2025, 15:30 Uhr

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