Premiere der Stuttgarter Jungen Oper im Nord
Pinocchio im Wunderland
Surrealismus aus dem Kinderzimmer: Teresa Hoffmann inszeniert Lucia Ronchettis Instrumentalkomödie nach Carlo Collodis Märchengeschichte in der Jungen Oper im Nord.

© Matthias Baus
Die Nase wächst: (Alma Ruoqi Sun, rechts) mit Perkussionistin Nozomi Hiwatashi (links) und Kontrabassistin Johanna Ehlers.
Von Martin Mezger
Was, das soll Pinocchio sein? Kein Hütchen, keine Halskrause, keine wachsende Holznase – sondern ein Warzenwesen im blauen Froschanzug? Da werden Erwartungshaltungen kreativ durchkreuzt, die Erwachsene wahrscheinlich eher mitbringen als der jüngere Teil des Publikums ab sechs Jahren, an den sich die Inszenierung richtet.
Auf nacherzählende Abziehbildchen zu Carlo Collodis Märchengeschichte legt es Regisseurin Teresa Hoffmann so wenig an wie die Komponistin Lucia Ronchetti in ihrer Instrumentalkomödie „Pinocchios Abenteuer“. Eher bestätigt die Inszenierung den antiautoritären Verdacht, dass die Holzpuppe, die ein richtiger Junge sein will, gerade dann ein richtiger Junge ist, wenn sie noch keiner ist; sondern der ungezogene Holzbengel, der neugierig auf die Nase fällt, sich mit faulen Ausreden aus der Patsche hilft, lieber Lust und Laune als einem Stundenplan folgt – und mit all seiner Lebendigkeit in die verwegenste Abenteuer gerät.
In der Jungen Oper im Nord (JOiN) nimmt das Züge einer spielerischen Improvisation an. Die natürlich präzis einstudiert ist, dennoch nah herankommt an die Fantasie, mit der Kinder Alltägliches in Traumsphären verzaubern. Bei den Bühnen- und Kostümbildnerinnen Simone Karl und Hanna Roxane Scherwinski sieht das aus wie die Verwandlung eines unaufgeräumtem Kinderzimmer in Max Ernst’sche Korallen- und Keimzellen-Surrealität. Alles wuchert, brütet und schwillt, vom Staksig-Versteinerten bis zum Ei kurz vor der Omelettewerdung. Qualliges und Glibbriges, Fischlaich und Auswuchs, Borsten und Blasen überziehen Gegenstände und Figuren. Die Kontrabassistin Johanna Ehlers ist ein lila Pilz, die Geigerin Caroline Dorothea Fischbeck trägt einen turmhohen Clownhut, die Schlagzeugerin Nozomi Hiwatashi steckt im Zirkusdress. Alles sehr grotesk, leicht monströs, voll lustig.
Die bunte Bildfantasie des organischen Sprießens, Wachsens und Werdens macht vieles möglich und lässt alles offen. Da wird niemand zum normgerechten Jungen geschnitzt. Aber was wird dann aus Pinocchio? Zum Beispiel ein Kontrabass, der vor Angst grummelt wie ein Bauch im finsteren Wald. Oder ein Esel, der strengen Dressur des Zirkusdirektors unterworfen. Und alle werden zum Teil von Pinocchio. Die Geigerin macht die Eselsohren, Cellistin Delphine Henriet wedelt mit dem Bogen als Schwanz. Die Nase, die nach der ersten Lüge wächst, ist eine gemeinsame Hand-an-Hand-Aktion wie beim Butterstampfer-Spiel.
Keine Rollen, nur Verwandlungen
Es gibt keine Rollen in dieser traumschönen, manchmal traumdunklen Performance. Nur Verwandlungen. Auch wenn Alma Ruoqi Sun offiziell den Pinocchio singt und spielt – mit brillant glitzerndem Sopran in der akrobatischen Partie von Gesprochenem bis zu Koloratur-Rachengold, etwa wenn Pinocchio über die wundersame Goldstück-Vermehrung jubiliert. Sun singt und spielt aber auch die gute Fee, die ihn aus Lebensgefahr rettet – in Hoffmans Regie keine übermenschliche, sondern menschlich mitfühlende Macht, Pinocchios Schwester und Sehnsuchtsfigur, die vor Kummer über den vermeintlichen Verlust des Bruders zu barocken Lamento-Tönen stirbt.
Kurz darauf lässt Ronchettis Musik ungeniert einen Boogie-Woogie-Bass zupfen. Der schlagartig andere Moment macht’s, nicht die erzählerische Logik. Auf dem Grund experimentellen Musiktheaters entdeckt die Komponistin die Spontaneität von Kinderspielen. Sie holt Geräuschhaftes, Grelles, und krass Dissonantes ebenso aus der Klangkiste wie schmalzig schmelzende Cello-Kantilenen, munteren Salon-Swing und Zirkusmarsch: Musik über Musik, wie in Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“, aber stilistisch stets die typische Ronchetti-Energie, deren Spannung die Instrumentalistinnen in Shawn Changs Leitung knistern lassen.
Wie das Horn zum Monster wird
Den Clou des Stücks – instrumentale Aktionen sind selbst die Handlung, statt sie bloß zu illustrieren – hat Regisseurin Hoffmann klug erkannt und mit viel Witz gebannt; bis zuletzt der Schalltrichter des Horns (Peiyun Su) zum Maul des Monsters wird, das Pinocchio verschlingt.
Die nächste Vorstellung am 17. Mai ist ausverkauft. Für Schulklassen gibt es Aufführungen am 13., 14. und 16. Mai, 11 Uhr.