Schauspiel Stuttgart
Regisseurin Lucia Bihler eröffnet die Spielzeit
Mit Thomas Melles „Die Welt im Rücken“, der Chronik seiner bipolaren Störung, eröffnet Regisseurin Lucia Bihler die Saison im Stuttgarter Schauspiel.

© Ferdinando Iannone
Was Lucia Bihler vorschwebt, ist ein „sinnlich visueller“ Zugang zum Stoff.
Von Roland Müller
Die Frage ist so delikat, dass man sie sich anderswo verkneifen würde. Aber wir sind im Theater, dieser bürgerlichen Institution, die sich seit je die Freiheit nimmt, sich unbürgerlich aufzuführen. Auf der Bühne lassen Performer, m/w/d, selbst ihr Allerprivatestes nicht privat, sie stellen nicht nur ihr Intimes, sondern auch ihre Intimitäten aus. Betroffenheits- und Befindlichkeitstheater – und zumindest beim vorliegenden Stück, Thomas Melles „Die Welt im Rücken“, muss deshalb auch die distanzlose Frage nach dem Seelenleben der Regisseurin erlaubt sein.
Haben Sie, Frau Bihler, schon selbst therapeutische oder gar psychiatrische Erfahrungen gemacht? „Nein, aber ich setze mich schon lange mit dem Thema der Stigmatisierung von psychischen Krankheiten auseinander“, sagt die Regisseurin, „in meinem engsten Umfeld kann ich das beobachten. Hinzu kommt, dass meine Mutter als Psychologin Angehörige von psychisch Erkrankten betreut. Wir reden oft über ihre Arbeit.“ Und vielleicht, ergänzt Bihler noch, würde ihr als direkt Betroffene auch der Mut fehlen, sich dem Stoff zu stellen.
Wenn das Hirn herrenlos davonstürzt
Dieser Stoff ist hart und könnte Traumata triggern. „Die Welt im Rücken“ ist Melles schonungslose Chronik seiner bipolaren Störung, mit manisch-depressiven Schüben, die nicht nur eine Woche dauern, sondern ein Jahr und länger. Sie führen den Autor in euphorische Höhen und finsterste Tiefen, in Wahngebäude, in denen es wimmelt von Botschaften, die nur an ihn gerichtet sind. Irgendwann „stürzt das Hirn herrenlos davon“ und füllt sich mit neuen, falschen Inhalten. Es baut sich eine Welt und vernichtet sie, es bildet sich ein, mit Madonna zu schlafen, und bricht im Wahn mit Freunden und Freundinnen. „Melle sitzt nicht mehr allein am Steuer“, sagt Bihler zu den Kontrollverlusten, die der Autor in seiner Selbsterkundung schildert.
Erschienen ist „Die Welt im Rücken“ 2016, der Roman wurde für den Deutschen Buchpreis nominiert und kam ruckzuck auf die Bühne. Unter der Regie von Jan Bosse schlüpfte der wunderbare Körperspieler Joachim Meyerhoff in die Haut des erkrankten Melle. Zuschauer und Kritiker feierten das Solo am Wiener Burgtheater, dem als Metapher eine Tischtennisplatte diente, die unablässig Ping-Pong-Bälle auf Meyerhoff/Melle abfeuerte: die „Neuronenschwemme“, derer sich der hyperaktive Protagonist nicht erwehren kann. Die 37-jährige, in München geborene Bihler, selbst Burg-Regisseurin, schwärmt von der fast dreistündigen Inszenierung: „Bosse und Meyerhoff haben einen fantastischen Abend geschaffen. Toll! Das hat mich eingeschüchtert, aber ich dachte: Dann warte ich einfach ein paar Jahre.“
Das eigene Nadelöhr
Jetzt ist es soweit. Mit der „Welt im Rücken“ eröffnet die gefragte Theaterfrau die neue Saison im Stuttgarter Schauspielhaus. Es hätte nahegelegen, die erfolgreiche Wiener Bearbeitung zu spielen. Das wollte Bihler aber nicht. Stattdessen hat sie sich selbst durch das krankhaft aus den Fugen geratene Melle-Leben gefressen. „So wie bei jeder meiner Bearbeitungen“, sagt sie, „jeder Stoff muss durch mein eigenes Nadelöhr gehen. Nur dann erkenne ich, welche inhaltlich-ästhetischen Schwerpunkte ich in meiner Adaption setzen will. Dabei war ich immer im Austausch mit der Stuttgarter Chefdramaturgin Gwendolyne Melchinger.“ Und mal kurz davon abgesehen, dass es im hiesigen Ensemble eben auch keinen Meyerhoff gibt, wird Bihler erkennbar andere Akzente setzen als die Herren in Wien.
Die 300 Seiten der Romanvorlage hat sie auf 30 geschrumpft, sie lässt vergleichsweise wenig Text sprechen. Was ihr vorschwebt, ist ein „sinnlich visueller“ Zugang zum Stoff, kein intellektueller. Sie wird mit vielen Verfremdungen arbeiten, mit Masken und Choreografien in einem abstrakten Bühnenraum, der die Figur verschluckt, je weiter der Wahn voranschreitet. Flankiert wird der depressive Maniac von sechs Doppelgängern, die stumm bleiben, der Regisseurin aber eine Reihe spielerischer Möglichkeiten der nonverbalen Art eröffnen: „Wenn alle mit einem szenischen Vorgang aufhören und nur Melle weitermacht, wird klar: Er merkt nicht, dass er drüber ist. Außerhalb der Spur. Ver-rückt im Wortsinn.“
Bihler folgt ihrem Instinkt
Aber ist es in Stuttgart überhaupt ein Er? Es ist die 33-jährige Paulina Alpen, die Bihler als Gast die Melle-Rolle übernehmen lässt. Die beiden Theaterfrauen haben schon oft miteinander gearbeitet, in Oslo, Köln, Wien und zuletzt bei „Lobster“ im Münchner Volkstheater, einer Dystopie über eine Gesellschaft, in der nur Hetero-Paare ein Existenzrecht haben. „Paulina ist eine sehr körperliche Spielerin“, sagt Bihler, „mit hohem Bewusstsein, wie sie welche Gefühle und Zustände ausdrücken kann. An ihren Figuren kann man andocken, sie stellt eine Nahbarkeit her, ohne die man Melle nicht verkörpern könnte.“ Die Frage, ob Mann, ob Frau habe sich bei der Rollenbesetzung deshalb nicht gestellt: „Ich besetze nach der Energie, die ich in Darstellern spüre, nach dem Typ, den er oder sie verkörpert, ich folge meinem Instinkt.“
Bis jetzt lag sie damit richtig. Mit einer anderen Bühnenadaption, den „Eingeborenen von Maria Blut“ nach dem lange vergessenen Roman von Maria Lazar, wurde Bihler vor zwei Jahren zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Die Wiener Produktion festigte ihren Ruf, sich mit souveräner Ernsthaftigkeit über schwierige Stoffe zu beugen. Da war es nur eine Frage der Zeit, bis auch der Stuttgarter Intendant Burkhard Kosminski auf die unerschrockene Lucia Bihler stieß. Nach unverbrauchten, vorzugsweise weiblichen Regiehandschriften sucht er immer. Ob sich zum Spielzeitstart auch sein Instinkt wieder bewährt? Es wäre ein gutes Omen für die anbrechende Saison.