Vergangener Fortschritt

Vor 45 Jahren wurde der historische Bahnhof in Backnang abgerissen  –  Ziegelbau muss modernem flachen Neubau weichen

Er ist längst verschwunden. Aber der Bau des ersten Backnanger Bahnhofs vor 140 Jahren war ein bedeutendes Ereignis in der Stadtgeschichte. Fotos im Stadtarchiv erzählen von einem einprägsamen Gebäude, das in den 1970er-Jahren abgerissen wurde

1905 noch rege im Betrieb (Bild links), ist der alte Bahnhof in den 70er-Jahren zur Baustelle geworden (Bild rechts).Fotos: Stadtarchiv Backnang

1905 noch rege im Betrieb (Bild links), ist der alte Bahnhof in den 70er-Jahren zur Baustelle geworden (Bild rechts).Fotos: Stadtarchiv Backnang

Von Ina Matthes

BACKNANG. „Ein trauriges Bild bietet der Backnanger Bahnhof seit Jahren. Die sanitären Einrichtungen und die Aufenthaltsgelegenheiten sind mangelhaft“. Das schrieb die Backnanger Kreiszeitung über den Bahnhof der Stadt in ihrer Ausgabe vom 16. März 1973. Der Bericht über den Verfall erscheint vier Tage vor dem Abriss des fast 100-jährigen historischen Bahnhofsgebäudes, einem mächtigen Ziegelbau. Am 20. März müssen dort die Bagger angerückt sein – so steht es jedenfalls in der Backnanger Chronik. In der Zeitung findet sich tags darauf allerdings nichts über dieses Ereignis. Es gibt damals offenkundig drängendere Sorgen als den Abriss des alten Bahnhofs: Ärger mit der Müllabfuhr, Streit um Schulen und Straßenbau.

Bernhard Trefz aber kennt ihn noch, den alten Backnanger Bahnhof. Der Stadtarchivar wurde 1962 in Backnang geboren und ging hier zur Schule. „Ich bin mit dem Bus zum Bahnhof gefahren.“ Eine Zeit lang besuchte er eine Schule in dessen Nähe. Trefz hat sich als Schüler für den Bahnhof nicht weiter interessiert. Für ihn war er „eben ein Gebäude“. Eigentlich ein stattliches, zumindest in seinen früheren Jahren. Alte Fotos aus den Beständen des Stadtarchivs zeigen das: ein rotes Ziegelgebäude mit mehreren Etagen. Große Rundbögen im Erdgeschoss, aus Naturstein gemauert. Eine offene Vorhalle in Gusseisenkonstruktion. Vor dem Gebäude haben sich Eisenbahner für den Fotografen in Reihe aufgebaut – in den Uniformen der Königlich-Württembergischen Eisenbahn.

Die Eisenbahn ist damals der Fortschritt. Von 1876 bis 1880 werden gleich vier wichtige Strecken mit Backnang als einem Knotenpunkt in Betrieb genommen Sie verbinden die aufstrebende Industriestadt an der Murr mit Waiblingen, Murrhardt, Gaildorf und Marbach. Das Netz wird Stück für Stück erweitert, sodass Reisende und Güter von Backnang aus zum Beispiel bis nach Heilbronn fahren können. Die Bahn befördert Holz, Rinde für die Gerbereien, Leder aus den Backnanger Fabriken. Die Leute aus dem Umland fahren damit zur Arbeit in die Lederfabriken und Spinnerei. Es rollt das Vieh zum Viehmarkt. Es reisen Kläger und Beklagte zum Landgericht Heilbronn.

1878 wird das imposante

Gebäude eingeweiht

In den ersten beiden Jahren des Schienenverkehrs müssen sich die Passagiere mit einem provisorischen Bahnhofsgebäude zufriedengeben. Ab 1876 rollen erste Züge zwischen Waiblingen und Backnang. Der repräsentative Ziegelbau wird aber erst am 11. April 1878 eingeweiht, als auch die Bahnlinie nach Murrhardt eröffnet wird. Im Gebäude befinden sich damals nicht nur die Schalterhalle, Büros, eine Gaststätte, sondern zugleich Wohnungen für die Bahnbediensteten. Mit seiner Ziegelbauweise entspricht der Bahnhof dem Zeitgeschmack. Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts werden zahlreiche Häuser in der Stadt mit roten Ziegeln gebaut, erzählt Stadtarchivar Trefz. Zur damaligen Zeit dauert eine Bahnfahrt bis nach Stuttgart noch etwa anderthalb Stunden. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in den 1950er und 1960er-Jahren, können dann viele Bürger schon besser, flexibler, schneller reisen – mit dem Auto. Straßenbau wird wichtig, man plant und baut „autogerechte Städte". Das einstige Fortschrittssymbol Bahnhof verfällt. Bilder aus den 1970er-Jahren dokumentieren den traurigen Zustand. Eine schäbig gewordene Fassade, trübe Fenster. Eine der historischen Aufnahmen zeigt dann auch den beginnenden Abriss.

Zäh und lang ist darum gerungen worden, schreibt die Backnanger Kreiszeitung 1973. Renovierung und Umbau? Oder doch der Abriss? Die Entscheidung lautet am Ende: komplett abreißen. Zwischen Stadt und Bahn geht es noch eine Weile hin und her. Ein Streitpunkt ist, wer sich wie an welchen Kosten beteiligen soll. Die Bahn veranschlagt rund 2,5 Millionen DM für den Neubau – weist aber gleich darauf hin, dass die Sache steigender Preise wegen wohl am Ende teurer werde. Die Stadt übernimmt die Gestaltung des Vorplatzes und will 400 000 DM investieren. Dem alten Bahnhof scheint niemand eine Träne nachzuweinen. In einem Bericht aus dem Stadtrat heißt es zum geplanten Neubau „alle Fraktionen freuten sich."

Am 24. August 1975 ist es dann soweit. Bahn und Stadt eröffnen den neuen Bahnhof. Bei schlechtem Wetter, bedauert der Redakteur der Backnanger Kreiszeitung in der Ausgabe vom Montag darauf. 18 000 Besucher feiern den modernen, flachen Neubau. Eine alte Adler-Lokomotive, wie sie auch auf Fotos aus den 1880er-Jahren zu sehen ist, fährt. Anwesende Honoratioren versprechen, dass die Fahrgäste auf der Strecke nach Stuttgart bald nicht mehr umsteigen müssen. Die S-Bahn fahre ab Herbst 1980 bis Stuttgart durch und werde bis zum Hauptbahnhof nicht mehr als 39 Minuten benötigen. Dafür brauchen die Ehrengäste auf der Fahrt im Sonderzug an diesem Augustwochenende länger als geplant. Vor Murrhardt steht der Zug – Signalausfall.

Für den einstigen Neubau aus den 1970er-Jahren läuft nun auch die Zeit ab. Der Bahnhof und sein Umfeld sollen moderner gestaltet werden. In den nächsten Jahren wird das Letzte verschwinden, das noch an den ersten Backnanger Bahnhof erinnert: der Güterschuppen.

Stadtarchivar Bernhard Trefz wünscht sich als Bürger der Stadt, dass das Areal übersichtlicher gestaltet wird. Vielleicht in dieser Art: „Die Visitenkarte der Stadt gegenüber all denen, die sie auf dem Schienenweg besuchen, wird in Gegensatz zur jetzt endenden Situation einen erfreulichen modernen Eindruck hinterlassen." Das schreibt die Backnanger Kreiszeitung im März 1973, in Erwartung des Neubaus.

Wo einst das rote Ziegelgebäude mit den großen Rundbögen war, steht heute ein flacher, funktionaler Bahnhof.Archivfoto: E. Layher

Wo einst das rote Ziegelgebäude mit den großen Rundbögen war, steht heute ein flacher, funktionaler Bahnhof.Archivfoto: E. Layher

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Erstellt:
28. Mai 2018, 13:06 Uhr

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