Vollblutmusiker rocken den Stiftshof

Bei Publikum wie Bühnenakteuren in Backnang spürt man, wie sehr ihnen die Konzertatmosphäre gefehlt hat.

Backnanger Kultursommer: Das Format Roots’n’Branches bewährt sich erneut. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Backnanger Kultursommer: Das Format Roots’n’Branches bewährt sich erneut. Foto: A. Becher

Von Simone Schneider-Seebeck

BACKNANG. „Mega, dass wir gleich ein Konzert hören werden. Dass wir alle zusammen sind“, freut sich Jasmin Meindl. Im vergangenen Herbst hatten die beiden Chefinnen des Bandhaus-Theaters voller Hoffnung das Konzept für den Kultursommer in Backnang entwickelt. Im Nullkommanix sei ein Riesenprojekt auf die Beine gestellt worden: Das sei der bisherige Höhepunkt ihrer und Juliane Putzmanns achtjähriger Arbeit in Backnang. „Wir haben viele angefragt, alle wollten dabei sein“, berichtet sie. Und dazu gehört selbstverständlich auch die Theater-Hausband um Biggi Binder. Schon ein Klassiker im Bandhaus-Programm, bietet das Format Roots’n’Branches rockige, bluesige, soulige Töne mit der (Noch-)Wendrsonn-Frontfrau, Andy Schoy am Schlagzeug und Robert Sakic an der Gitarre.

Gut 80 ausgehungerte Musikfreunde haben es sich auf den Stühlen gemütlich gemacht.

Das Konzept: Drei Gastmusiker, die bereits langjährige Erfahrungen im Musikgeschäft mitbringen, ergänzen die Band, gewissermaßen die Wurzeln, zusammen mit den Branches, jungen Musikneulingen, für die solch ein Konzert oft die erste Gelegenheit ist, sich einem größeren Publikum zu präsentieren.

Gut 80 ausgehungerte Musikfreunde haben es sich auf den Stühlen gemütlich gemacht, die Plätze wurden nach einem ausgeklügelten System vergeben, um die Abstandsregeln zu wahren. Ehrenamtliche Helfer weisen die Plätze zu. Die ausladende Stehlampe auf der Bühne vermittelt Wohnzimmeratmosphäre, die Sonne wärmt den Stiftshof. Ein Glück, dass der Wettergott an diesem Abend ein Einsehen mit dem Anliegen der Organisatoren hatte. Begeistertes Klatschen, als die ersten Klänge von „Roxanne“ ertönen und Biggi Binder die Bühne betritt. „Ihr glaubt gar nicht, wie ihr mir gefehlt habt“, ruft sie ins Publikum. Dieses Mal dabei sind, neben Schlagzeuger Andy Schoy, Rolf Kersting am Bass, der Mann mit dem „delikaten Musikgeschmack“, der Kanadier Steve Mushrush an der Gitarre, der die vergangenen Monate mit dem Komponieren von Musikstücken für Film und Fernsehen verbracht hat, und der Franzose mit dem charmanten „Accent“, Jean Pierre Barraque an Keyboard und Klavier. Vielseitig sind die Stücke, mal jazzig mit „If you want me to stay“, mal ein auffordernder Blues wie „Love me like a man“ oder ein leidenschaftlicher Countrysong mit „I will not be broken“. „Heute Abend ist die Rede von starken Frauen“, so die Sängerin mit der kraftvollen Stimme und erweist damit nicht nur Künstlerinnen wie Bonnie Raitt, Etta James, Carole King oder Susan Tedeschi die Ehre, sondern würdigt auch das Engagement des Bandhaus-Duos Meindl und Putzmann.

Zwischen den einzelnen Stücken ist immer Zeit für ein Gespräch mit einem der Musiker, eine kleine Anekdote, bevor es weitergeht mit dem nächsten Song. Soloeinlagen der Künstler werden mit anerkennendem Beifall belohnt, die gesamte Stimmung auf dem Platz hat etwas Fröhliches, Ungezwungenes, manch einer singt mit, zahlreiche Füße wippen, die Augen gebannt nach vorne gerichtet. Der Keyboarder Barraque komponiert auch, so bleibt es nicht aus, dass zwei seiner Stücke, von Biggi Binder mit Text versehen, dem Publikum präsentiert werden, „Open Mind“ und „Daydream“ als Plädoyers gegen sture Ernsthaftigkeit und festgefahrenes Denken. Doch nicht nur die Songs weiblicher, sondern auch die männlicher Interpreten haben ihren Platz im Bühnenprogramm. Etwa „I don’t need no doctor“ von Ray Charles, Bruce Hornsbys „The Way it is“, Little Richards „Lucille“ oder eine psychedelische Einlage mit Jimi Hendrix und „Little Wing“.

Langsam senkt sich Dunkelheit über den Stiftshof, Wolkenbänder in unzähligen Grau- und Rosatönen ziehen vorbei. Nach der Pause ist es so weit, ein powervoller Auftritt der beiden Branches Anja und Julia Müller, übrigens weder verwandt noch verschwägert, gemeinsam mit Biggi Binder zu „My Heart“. Zum fröhlichen und sommerlichen „Soul Sister“ begleitet sich Anja Müller auf der Ukulele. Julia Müller war Binders erste Schülerin in Backnang. Seit 13 Jahren kennen sich die beiden.

Mittlerweile ist die junge Künstlerin mit eigenen Projekten und einer Band unterwegs. „Sie erinnert mich irgendwie an mich“, sinniert Binder, und weiter geht es mit einer unglaublich kraftvollen, souligen Nummer, „Fooled around and fell in love“, perfekt für die drei unterschiedlichen und doch so wunderbar harmonierenden Sängerinnen. Als dritter Branch tritt Tom Binder auf, hingebungsvoll greift er während seines Gesangs in die Saiten der Gitarre. Viel zu schnell ist dieser Ausflug in vergangene Zeiten zu Ende. Da muss doch noch eine Zugabe drin sein? „Es ist nicht ganz Midnight und nicht ganz Harlem, aber das Feeling stimmt halt“, kündigt Binder den wirklich allerletzten Song des Abends an, „Midnight in Harlem“ von der Tedeschi Truck Band.

Lang anhaltender Applaus belohnt die Künstler. Schließlich macht sich das Publikum langsam auf den Weg nach Hause. Fast fühlt es sich an wie früher. Ein einsamer Desinfektionsspender weist den Weg.

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Erstellt:
9. Juli 2021, 11:30 Uhr

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