Neu im Kino: „Der Fremde“

Warum sich die Verfilmung Camus’ Meisterwerk lohnt

François Ozon setzt Albert Camus’ Jahrhundert-Werk „Der Fremde“ für die Leinwand um und beschert dem Publikum ein sehenswertes Stück Filmgeschichte.

Der Film setzt stark auf Körperlichkeit: Benjamin Voisin (l) als Meursault geht mit  Rebecca Marder als Marie schwimmen und eine Liaison ein.

© Carole Bethuel/Weltkino FIlmverl

Der Film setzt stark auf Körperlichkeit: Benjamin Voisin (l) als Meursault geht mit Rebecca Marder als Marie schwimmen und eine Liaison ein.

Von Martin Schwickert

Mit dem Revolver in der Hosentasche ist Meursault (Benjamin Voisin) in die Bucht zurückgekehrt. Dort sitzt im Sand der arabische Mann (Abderrahmane Dehkani), der seinen Freund wenig zuvor mit dem Messer bedroht hat. Die heiße Mittagssonne Algeriens brennt auf die beiden Männer nieder. Schweißperlen rinnen an Gesicht und Körper herunter. Der Blick seines Gegenübers ist undurchdringlich. Langsam gleitet dessen Hand in die Hosentasche, aus der er das Messer zieht. Auch Meursault hat seinen Revolver schon in der Hand, als er von der Sonne, die sich in der Klinge des Messers spiegelt, geblendet wird. Unerträglich ist das grelle Licht, das sich in die Augen hinein brennt. Ein Schuss fällt und kurz danach vier weitere.

Bereits Visconti hat den Roman 1967 mit Marcello Mastroianni verfilmt

„Es war die Sonne“ wird Meursault später vor Gericht sagen, als er nach seinen Gründen für den Mord gefragt wird. Die Mordszene in Albert Camus „Der Fremde“ gehört zu den eindringlichsten Szenen der Weltliteratur. Wer sie gelesen hat, vergisst sie nie und auch in François Ozons filmischer Adaption des Romans, bekommt sie exakt in der Filmmitte einen prominenten Platz.

Mehr als achtzig Jahre nach dem Erscheinen des Buches nimmt sich der Regisseur, der dem Kino Filme wie „Swimming Pool“ und „8 Frauen“ geschenkt hat, den Schlüsselroman des französischen Existenzialismus vor.

„Der Fremde“ gehört zu den am meisten verkauften Bücher des 20. Jahrhunderts und nicht nur in Frankreich zur Schullektüre.

Luchino Visconti hat den Roman bereits 1967 mit Marcello Mastroianni in der Hauptrolle verfilmt. Angesichts der literarischen Prominenz des Stoffes ist Ozon einerseits sichtlich um Werktreue bemüht und versucht ihn andererseits vorsichtig zu modernisieren und in einen historischen Kontext zu setzen.

Camus‘ Roman spielt im von der französischen Kolonialmacht regierten Algerien der 1930er Jahre, das jedoch vornehmlich als flirrende Kulisse benutzt wird, ohne die politischen Zustände im Land und das Leben der unterdrückten arabischen Bevölkerung auch nur aus dem Augenwinkel wahrzunehmen. Der Ermordete wird dann auch folgerichtig nur als „der Araber“ bezeichnet, was den algerischen Autor Kamel Daoud dazu bewegt hat, in „Der Fall Meursault“ (2013) die Geschichte aus der Perspektive des Mordopfers neu zu erzählen. Es sind nur kleine aber entscheidende Nuancen, mit denen Ozon die Perspektive des Icherzähler-Romans erweitert. Sein Film beginnt mit einem Wochenschaubericht, der die Errungenschaften des französischen Kolonialismus in der schmucken Hauptstadt Algier anpreist, in der sich vornehmlich europäische Kundschaft in Cafés und Restaurants vergnügt.

Dagegen schneidet Ozon die Bilder von weniger glücklich dreinschauen Einheimischen und ein Graffiti der Algerischen Befreiungsfront, die später im Krieg gegen die Kolonialmacht eine entscheidende Rolle spielte. Kurz darauf wechselt der Film ins Gefängnis, wo der verhaftete Meursault als einziger Europäer in eine überfüllte Sammelzelle gesteckt wird. Was er getan habe, fragt ein Mitgefangener. „Ich habe einen Araber getötet“ antwortet Meursault ohne zu zögern in die schweigende Menge hinein, womit auch der Film direkt in medias res geht, um sich danach in einer langgezogenen Rückblende wieder an der Erzählstruktur der literarischen Vorlage zu orientieren.

Liebe und Gewalt lassen Meursault kalt

Der Handelsangestellte Meursault erfährt aus einem knappen Telegramm vom Tod seiner Mutter. Aus Algier machte sich auf in das Altersheim auf dem Lande, in dem er sie untergebracht hatte. Als der Angestellte in der Leichenhalle für ihn den Sarg öffnen will, lehnt Meursault ab. Die Totenwache absolviert er genauso ungerührt wie die katholische Beerdigungszeremonie.

Wieder in Algier zurück, trifft er in einem Freibad am Strand auf die Stenotypistin Marie (Rebecca Marder), die in der gleichen Firma arbeitet wie er. Am Abend gehen die beiden ins Kino und später auch zusammen ins Bett. „Liebst du mich?“ fragt Marie ihn einige Wochen später. „Das ist nicht wichtig“ antwortet Meursault mit einem leeren Blick, ohne die Arme von ihr zu lösen.

Gegenüber der Liebe ist Meursault genauso gleichgültig wie gegenüber der Gewalt, die ihn in direkter Nachbarschaft umgibt. Die Gefühle des alten Mannes (Denis Lavant), der seinen Hund schlägt und ihm nach dessen Verschwinden nachtrauert, sind ihm fremd. Das Verhalten seines Trinkkumpanen Raymond (Pierre Lottin), der seine arabische Freundin Djemila (Hajar Bouzaouit) misshandelt und möglicherweise zur Prostitution anhält, scheint ihn nicht zu stören. Als deren Brüder ihm auflauern, wird auch Meursault in die Spirale der Gewalt hineingezogen, die mit eben jenem Mord endet.

Wie im Roman beginnt auch in Ozons Adaption der zweite Teil vor dem Gericht, wo sich der Angeklagte verantworten muss, aber keinerlei Reue oder Erklärungen für seine Tat aufbringt.

Benjamin Voisin, den Ozon schon in seinem Film „Sommer 85“ (2020) entdeckt hatte, ist absolut fantastisch in der Rolle des scheinbar emotionslosen Mannes, der keinen Sinn in seiner Existenz sieht und jegliche moralische Einordnung ablehnt. Der Perspektiv- und Gefühllosigkeit des existenzialistischen Helden bringt Ozon in seiner Verfilmung in einen fruchtbaren Kontrast zu einer äußerst sinnlichen, visuellen Erzählweise. In geradezu betörenden Schwarzweiß-Aufnahmen fängt Kameramann Manu Dacosse die schwelende Hitze Algeriens, die nackten Körper beim Sex und immer wieder das schöne, viel sagend leere Gesicht des Protagonisten ein.

Nur am Ende wenn der zum Tode verurteilte Gefangene mit dem Priester in einen philosophischen Disput gerät, verliert der Film seine Balance, weil er zu viel Botschaft in zu kurzer Zeit formulieren will.

Trotzdem ist Ozons „Der Fremde“ ein absolut sehenswertes Stück Kino, das einen frischen Blick auf den Literaturklassiker wirft und dabei seine eigene cineastische Kraft entwickelt.

„Der Fremde“, Regie: François Ozon, mit Benjamin Voisin, Rebecca Marder, Pierre Lottin, 122 Minuten, ab 12 Jahren, Start: 1.1.2026

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Erstellt:
30. Dezember 2025, 12:16 Uhr

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