Reisen mit der Deutschen Bahn
Wie man eigentlich abgefahrene Züge doch noch erreicht
Die Deutsche Bahn nimmt es mit dem Wahrheitsgehalt ihrer fatalistischen Durchsagen nicht so genau. Ein Beispiel aus dem ICE Stuttgart-Nürnberg zeigt: Ignorieren hilft manchmal.

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Manchmal schafft man es per ICE vor Sonnenuntergang tatsächlich an sein Ziel. Vor allem, wenn man Tricks kennt.
Von Michael Werner
Exzellente Musiker können die Zeit stauchen – oder sie nach Belieben dehnen. Als Freddie Mercury noch lebte, beherrschte die Stadionband Queen diese Disziplin in umwerfender Perfektion. Die leider etwas von der Bildfläche verschwundene Indie-Folkerin Gabby Young ist großartig darin und natürlich Bob Dylan, der seine Band nach Lust und Laune voranpreschen lässt, um sie wenig später zu überholen. Neuerdings versucht die Deutsche Bahn, es exzellenten Musikern gleichzutun.
Denn vor wenigen Tagen trug sich auf ihren Gleisen Folgendes zu: Der ICE aus Stuttgart kam statt fahrplanmäßig um 16.16 Uhr erst kurz nach 16.28 Uhr am Nürnberger Hauptbahnhof an. Das ist an sich natürlich keine Nachricht. Aber die Art und Weise, wie die Deutsche Bahn mit der sich früh abzeichnenden Verspätung umging, durchaus. Denn Reisende, die mit dem ICE um 16.31 Uhr von Nürnberg aus weiter nach Wien fahren wollten, erfuhren über ihre „DB-Navigator“-App von einer Zeitstauchung der fatalistischen Art. Sie wurden lange vor der Ankunft in Nürnberg über die App folgendermaßen benachrichtigt: „Verbindung nicht mehr fahrbar. Bitte suchen Sie eine Alternative.“ Bereits mehr als 20 Minuten vor der Ankunft in Nürnberg erhielten Reisende zudem per E-Mail eine Nachricht mit dem Betreff „Ihr Anschluss in Nürnberg Hbf ist nicht erreichbar.“ Beide Nachrichten gleichen Inhalts stellten sich wenig später als unwahr heraus, denn der Anschluss war – zumindest für Reisende ohne eingeschränkte Mobilität – problemlos ohne Rennen erreichbar.
Der ICE nach Wien hatte unangekündigt seinerseits einige Minuten Verspätung. Doch selbst wenn er fahrplanmäßig um 16.31 Uhr abgefahren wäre, wäre der Weg von Gleis 7 zu Gleis 9 problemlos innerhalb der knappen Umsteigezeit zu bewerkstelligen gewesen. Dennoch wählte die Deutsche Bahn an diesem Tag als dritten Kommunikationskanal zur Fatalismusverbreitung auch noch die Lautsprecherdurchsage im gerade in Nürnberg angekommenen ICE, während die Fahrgäste ausstiegen. Dabei wurde mitgeteilt, dass die nächste Reisemöglichkeit nach Wien um 17.31 Uhr bestünde. Also eben nicht um 16.31 Uhr, sondern eine Stunde später. Logischerweise war auch diese Durchsage falsch, denn wer wollte und gut zu Fuß war, erreichte den Anschlusszug nach Wien.
Beim gedehnten Wahrheitsbegriff, der der dreifachen Kommunikation der Deutschen Bahn offenbar innewohnt, hat es sich überraschenderweise weder um ein Versehen, noch um einen Einzelfall gehandelt. Im Gegenteil – das Unerreichbar-Reden eines erreichbaren Zuges ist offenbar gewollt: „Für jeden Bahnhof sind Mindestumsteigezeiten definiert, nach denen ein Anschluss auch sicher erreicht werden kann“, teilt ein Sprecher der Deutschen Bahn auf Anfrage unserer Zeitung mit und ergänzt zur Präzisierung: „Diese orientieren sich daran, auch längere Umsteigewege, etwa vom ersten oder letzten Wagen des Zuges, bei normalem Gehtempo und mit Gepäck gut zu schaffen. Darauf sind entsprechend die Infos im DB Navigator und die Durchsagen ausgerichtet.“ Mit anderen Worten: Die Bahn legt offenbar anhand von Listen fest, was nicht geht, selbst wenn es geht.
Weshalb das so ist, erklärt der Bahnsprecher auch: Nicht jeder Reisende sei mit leichtem Gepäck unterwegs und in der Lage schnellen Schrittes von einem Gleis zum anderen zu wechseln, zumal für sehr schnelles Umsteigen eine Vertrautheit mit dem Bahnhof erforderlich sei. Wir konnten leider nicht in Erfahrung bringen, ob die Deutsche Bahn auch exzellenten Musikern erklärt, dass sie unmöglich alle zu singenden Worte bis zum Ende des vierten Taktes unterbringen können, wenn sie nicht spätestens in der Mitte des ersten Taktes damit begonnen haben.