Wie Musik überschrieben werden kann

Timo Brunke und das Stuttgarter Kammerorchester begeistern zum Saisonstart im Backnanger Bürgerhaus mit Konzertpoesie. Unter Leitung von Susanne von Gutzeit und mit dem Solisten Nikolaus von Bülow am Violoncello erarbeitete Brunke eine Poetry-Lesung mit eigenen Texten.

Das Konzept des Slampoeten Timo Brunke und des Stuttgarter Kammerorchesters geht auf: Das Backnanger Publikum reagiert euphorisch auf die Darbietungen. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Das Konzept des Slampoeten Timo Brunke und des Stuttgarter Kammerorchesters geht auf: Das Backnanger Publikum reagiert euphorisch auf die Darbietungen. Foto: A. Becher

Von Carmen Warstat

Backnang. „Eine sehr alte Liebe zur Musik“ ist es, die Timo Brunke zu diesem neuen Format führte. Er selbst sei „ja immer auf die Wortkunst losgegangen“, bestätigte er im Einführungsgespräch und wies hin auf den musikalisch-rhythmischen Charakter der Sprache – und nicht nur der Poesie, sondern auch der Epik. Genau das wolle man präsentieren. Brunke erinnerte an ein fast vergessenes Genre, das Melodram, das bis weit in die Zeit der Romantiker hinein populär war und in dem statt des üblichen Gesangs eine Rezitatorin zur Musik sprach.

Diese Form greift das aktuelle Programm „Hombre“ auf, allerdings eher in humorvoller Weise. Er wolle Texte für uns heutige Menschen so gestalten, dass die Gegenwart hineinleuchtet, und sprach von einer Überschreibung der Musik, die „frisch gehört werden soll“.

Den Entstehungsprozess solcher Projekte führte der Konzertpoet in seiner Einführung gemeinsam mit der Violinistin Ulrike Stortz und dem Publikum – sozusagen interaktiv – sehr anschaulich vor Augen und resümierte, „wie so ein Text entsteht – aus einer Laune heraus beispielsweise“.

Timo Brunke versprach, dass im Konzert die Superpräzision des Kammerorchesters auf „meine Schwurbeligkeit“ treffen werde und sollte recht behalten. Zu den virtuos gespielten „Nocturnal Dances of Don Juan Quixote“ für Violoncello und Streichorchester des finnischen Komponisten Aulis Sallinen beispielsweise bot er ein Erzählgedicht über eine Kiste mit zu verschenkenden Dingen, die vor einem Haus steht, an.

Der Start der diesjährigen Bürgerhaus-Saison geriet dann auch wunschgemäß eigenwillig. Das Stuttgarter Kammerorchester mit dem Solisten Nikolaus von Bülow am Cello brillierte, und Timo Brunke entführte das Publikum mit Fantasie in eine Alltagswelt, etwa: „Betriebsausflug. Stellen Sie sich vor, der Kies knirscht. Das Bier schäumt.“ Um seinen Dichterkollegen kurz darauf zu fragen: „Miguel, was bedeutet dieses Wort eigentlich – Hombre?“ Na klar, es bedeutet „Mensch!“ im Sinne von „Mensch komm!“ oder „Klar!“ oder „Menschenskind!“ („wenn du sauer bist“). Es sei dieses Wort wie eine Zauberformel, und was der Mensch mit sich selbst und anderen anstellt, solle Thema des Abends sein.

Von Menschen aufgestellte Regeln werden konzertpoetisch interpretiert

Nach der ebenfalls meisterhaft interpretierten „Battalia a 10“ des böhmischen Komponisten Heinrich Ignaz Franz Biber hieß es also: „Wir Menschen haben Regeln aufgestellt“, und solche wurden konzertpoetisch interpretiert: „Ehrlich währt am längsten“, „Aller Anfang ist schwer“, „Schuster, bleib bei deinen Leisten“, „Lügen haben kurze Beine“, „Geld regiert die Welt“, „Üb immer Treu und Redlichkeit“, „Haste was, dann biste was“. Sprichworte, zu denen Brunke die Konzertleiterin Susanne von Gutzeit vorstellt, lauten „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen“ oder „Eine Hand wäscht die andere“ oder eben „Kommt Zeit, kommt Rat“. Telemanns Orchestersuite „Burlesque de Quixotte“ erklang erwartungsgemäß erstklassig und der Poet widmete sich Jugendthemen: „Großes Talent zum Weltschmerz“ wurde slamartig kommentiert, denn: „Keiner hat mich gefragt, will ich diesen Planeten überhaupt?“ Aber: Man wolle „auch nicht die Haare mit dem Fallbeil spalten.“ Wo es sich anbot, nahm das Publikum die Rhythmen des Poesiekonzerts auf. Schubsen und Schunkeln sagte Timo Brunke dazu und nannte es Sozialharmonie.

„Wer um Himmels willen ist dieser Don Quijote?“ Das war die große Frage, die er nach der Pause stellte, und in diesem Sinne darf die abschließend wiedergegebene Bemerkung eines Vaters an den Sohn sicher auch verstanden werden: „Hab nur versucht, ein Buch loszuwerden.“

Das Publikum reagierte euphorisch und dankte mit enthusiastischem Applaus.

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Erstellt:
4. Oktober 2021, 06:00 Uhr

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