Raubkunst-Debatte

Wo steht das Kunstmuseum Stuttgart?

Das Kunsthaus Zürich kündigt „eine neue Strategie zur Provenienzforschung“ an. Wie weit ist man in Sachen NS-Raubkunst in Stuttgart? Wir haben nachgefragt – im Kunstmuseum Stuttgart.

Ulrike Groos ist Direktorin des Kunstmuseums Stuttgart

© KM/Gerald Ulmann

Ulrike Groos ist Direktorin des Kunstmuseums Stuttgart

Von Nikolai B. Forstbauer

Das international renommierte Kunsthaus Zürich kündigt „eine neue Strategie zur Provenienzforschung“ an. Wie weit ist man in Sachen NS-Raubkunst in Stuttgart? Wir haben nachgefragt – im Kunstmuseum Stuttgart bei Direktorin Ulrike Groos und Provenienzforscher Kai Artinger.

Frau Groos, Herr Artinger, in Zürich will man eine Million Franken „in den nächsten Jahren“ bereitstellen. Mit welchen Fördersummen und mit wie viel Personalstellen wird in Ihrem Haus seit wann systematisch Provenienzforschung betrieben?

Ulrike Groos: Das Kunstmuseum Stuttgart betreibt seit 2014 Provenienzforschung – zunächst, von 2014 bis 2017, im Rahmen eines langfristig geförderten Projekts, das erst von der Koordinierungsstelle für Provenienzforschung, dann vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste in Magdeburg finanziert wurde, anschließend durch eine Förderung der Freunde des Kunstmuseums und der Stadt Stuttgart möglich war. Vor einigen Jahren wurde die Stelle für Provenienzforschung im Kunstmuseum Stuttgart, die seit 2017 Kai Artinger bekleidet, aufgrund seiner außerordentlichen Bedeutung für unsere Sammlung entfristet.

Man hört meist nur von Restitutionen sehr bekannter Werke sehr bekannter KünstlerInnen. Im Fünfjahres-Rückblick: Lässt sich die Zahl der restituierten Werke aus Ihrer Sammlung beziffern?

Kai Artinger: Seit 2019 hat das Kunstmuseum Stuttgart zwei Gemälde und eine Plastik restituiert. Zurzeit gibt es ein laufendes Restitutionsverfahren für ein Grafikkonvolut und ein Gemälde. Außerdem sind aktuell elf Fundmeldungen in die Lost Art-Datenbank des Deutschen Zentrum Kulturgutverluste in Magdeburg eingestellt.

Und wie viel Prozent sind dies im Verhältnis zu den unter der gültigen Richtlinie identifizierten Arbeiten?

Kai Artinger: Das Kunstmuseum Stuttgart und die Stadt Stuttgart haben bisher alle Kunstwerke, die als NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut identifiziert wurden, restituiert beziehungsweise sind dabei, diese zurückzugeben. Also: 100 Prozent.

Die Forschung konzentrierte sich notwendiger Weise zunächst auf Gemälde und plastische Arbeiten. Ist denn eine systematische Analyse der grafischen Bestände überhaupt realistisch?

Kai Artinger: Ja, das ist realistisch. Ich erforsche zurzeit sämtliche Erwerbungen der Stadt Stuttgart für ihre grafische Sammlung von 1933 bis 1945. Im Oktober 2024 werden die Forschungsergebnisse in einem Buch und in einer Ausstellung im Kunstmuseum der Öffentlichkeit vorgestellt.

Provenienzforschung sehen wir meist unter dem klaren Ziel der Identifikation von Raubkunst. Hat denn diese Arbeit über erstmalig vorliegende Informationen auch weiterführende Bedeutung für unser Wissen um einzelne Kunstwerke und Kunstentwicklungen an sich?

Kai Artinger: Die Provenienzforschung eröffnet zum einen neue Perspektiven auf die Kunstwerke; zum anderen ist die Herkunftsforschung der einzelnen Kunstwerke eng verknüpft mit der Geschichte von Sammlungen und Museen. Deswegen ist sie immer auch ein Beitrag zur Sammlungs- und Museumsgeschichte.

Ist Provenienzforschung also immer auch Sammlungserforschung?

Nicht selten arbeiten Museen ihre eigene Institutionen- und Sammlungsgeschichte erst in Provenienzforschungsprojekten auf und füllen damit ein Desiderat, das teilweise über einen sehr langen Zeitraum bestand. Des Weiteren beleuchtet die Provenienzforschung das „Betriebssystem Kunst“ aus neuen Blickwinkeln, generiert etwa neue Erkenntnisse über die bis heute weitgehend unbekannte Geschichte jüdischer Kunstsammlerinnen und Kunstsammler in Stuttgart und ihre „verlorenen“ Sammlungen, über die Geschichte von Galerien und Galeristen, über die Mechanismen im Kunsthandel und auf dem Kunstmarkt von gestern bis heute.

An was wird aktuell in Ihrem Haus besonders geforscht?

Kai Artinger: Es wird zurzeit vor allem die Entstehungsgeschichte der grafischen Sammlung der Stadt Stuttgart im Nationalsozialismus und die Erwerbungen dieses Sammlungsbereichs von 1933 bis 1945 erforscht. Des Weiteren wird unter anderem die Herkunft ungeklärter Provenienzen der Dix-Sammlung untersucht und die unbekannte Herkunft von Kunstwerken, die im „Dritten Reich“ erworben wurden und im Verdacht stehen, vielleicht aus der ehemaligen Sammlung des jüdischen Textilfabrikanten Moriz Horkheimer zu kommen, des Vaters des Sozialphilosophen Max Horkheimer.

Planen Sie dann weitere Ausstellungsprojekte zu diesem Themenkreis?

Ulrike Groos: Ab Oktober 2024 wird das Kunstmuseum Stuttgart als Fortsetzung von „Der Traum vom Museum ,schwäbischer’ Kunst. Das Kunstmuseum Stuttgart im Nationalsozialismus“ (2020) die Ausstellung „Grafik für die Diktatur. Die Geburt der Grafiksammlung des Kunstmuseums Stuttgart im Nationalsozialismus“ zeigen, in der wir die Geschichte der Grafiksammlung und die Erwerbungen von 1933 bis 1945 vorstellen.

Und weiterführend?

Geplant ist in naher Zukunft zudem eine Ausstellung, die anhand ausgewählter Werke unserer Gemäldesammlung veranschaulicht, wie die Provenienzforschung der Kunstgeschichte neue Perspektiven auf Kunstwerke mit rassistischen Darstellungen eröffnen kann. Mit dieser Ausstellung soll die kontinuierliche Vorstellung von Forschungsergebnissen der Provenienzforschung im Haus fortgesetzt werden.

Glauben Sie, dass diese Arbeit für die Gesellschaft und mehr noch für Ihr Publikum von Bedeutung ist?

Kai Artinger: Ja, unbedingt. Das Kunstmuseum Stuttgart sieht sich den Zielen der Washingtoner Prinzipien von 1998 verpflichtet und untersucht daher seit 2014 intensiv und proaktiv die Herkunftsgeschichte und Eigentümerwechsel von Kunstwerken seiner Sammlung. Darüber hinaus liegt einer der Schwerpunkt der Provenienzforschung im Haus auf der Institutionen- und Sammlungsgeschichte. Dadurch leistete die Provenienzforschung im Kunstmuseum Stuttgart einen entscheidenden Beitrag dazu, die Geschichte des Museums neu zu schreiben und seine Entstehungsgeschichte im Nationalsozialismus aufzuarbeiten und bekannt zu machen. Zugleich leistete es damit auch einen Beitrag zur deutschen Museumsgeschichte und zur Entwicklung der Museen im Nationalsozialismus.

Ulrike Groos und Kai Artinger in Kürze

Ulrike Groos 1963 in Schlüchtern (Hessen) geboren, leitet Ulrike Groos seit Januar 2010 das Kunstmuseum Stuttgart. Seit Beginn ihrer Amtszeit in Stuttgart hat Groos – zuvor Direktorin der Kunsthalle Düsseldorf – zahlreiche Ausstellungen, Projekte und Initiativen entwickelt und angestoßen. Zu den Höhepunkten des Ausstellungsprogramms zählt die Retrospektive zum Werk von Michel Majerus und die Schau zum zehnjährigen Bestehen des Museums „I Got Rhythm. Kunst und Jazz seit 1920“, aber auch die Ausstellungen zum Gesamtwerk von Ragnar Kjartansson (2019) und von Tobias Rehberger (2022).

Kai Artinger ist gebürtiger Bremer. Der promovierter Kunst- und Kulturhistoriker, Autor und Publizist baute das Forum für Literatur und Bildende Kunst / Günter Grass-Haus in Lübeck mit auf und war dessen wissenschaftlicher Leiter. Außerhalb der wissenschaftlichen Arbeit sind sechs Kriminalromane mit den Fällen des Kommissars Gustav Lüder und eine von Artinger illustrierte Erzählung über das Eichhörnchen in der Kunst erschienen.

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Erstellt:
19. März 2023, 21:44 Uhr

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