2020 mehr Menschen denn je auf der Flucht

dpa Genf. UN-Generalsekretär Guterres hatte gehofft, dass das weltbedrohende Coronavirus die Menschen wachrüttelt und Konflikte beendet werden. Ein Trugschluss, wie der neue UNHCR-Flüchtlingsbericht zeigt.

Migranten aus verschiedenen afrikanischen Nationen warten in einem Boot vor der libyschen Küste im Mittelmeer auf Helfer. Foto: Bruno Thevenin/AP/dpa

Migranten aus verschiedenen afrikanischen Nationen warten in einem Boot vor der libyschen Küste im Mittelmeer auf Helfer. Foto: Bruno Thevenin/AP/dpa

Ungeachtet der Corona-Pandemie sind im vergangenen Jahr weltweit so viele Menschen auf der Flucht gewesen wie nie zuvor. Ende 2020 waren praktisch so viele Menschen wegen Konflikten, Verfolgung und Gewalt aus ihrer Heimat vertrieben wie Deutschland Einwohner hat.

Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) sprach in Genf von 82,4 Millionen. Das waren vier Prozent mehr als 2019 und doppelt so viele wie vor zehn Jahren. Auch der Klimawandel treibe immer mehr Menschen in die Flucht, weil sie in ihrer Heimat nicht mehr überleben können, berichtete UNHCR.

„Hinter jeder Zahl steht eine Person, eine Geschichte der Vertreibung, Enteignung und des Leids“, sagte der Hochkommissar für Flüchtlinge, Filippo Grandi. „Sie verdienen unsere Aufmerksamkeit und unsere Unterstützung, nicht nur durch humanitäre Hilfe, sondern auch dadurch, dass wir eine Lösung für ihre Not finden.“

Grenzen wegen Pandemie zu

Weil viele Länder in der Pandemie ihre Grenzen schlossen, fanden so wenige Flüchtlinge wie seit fast zwei Jahrzehnten keine neue Heimat mehr. Nur 34 400 Menschen konnten in 21 Ländern umgesiedelt werden - etwa ein Drittel so viele wie im Jahr davor. Eigentlich brauchten 1,4 Millionen Menschen solche Plätze, so das UNHCR.

Deutlich mehr als die Hälfte der Menschen war im eigenen Land vertrieben. Die, die ins Ausland flohen, blieben vor allem in den Nachbarländern. 86 Prozent wurden von Entwicklungsländern aufgenommen. Minderjährige machen zwar rund 30 Prozent der Weltbevölkerung aus, unter den Geflüchteten sind es aber 42 Prozent.

Entwicklungsminister: „Trauriger Rekord“

Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) sprach von einem „traurigen Rekord“. „Wir dürfen in Europa nicht wegschauen von dieser dramatischen Entwicklung. Vor allem die ärmsten Länder leisten die Hauptlast dieser Flüchtlingskrise“, sagte Müller den Zeitungen der „Funke“-Mediengruppe. „85 Prozent der Flüchtlinge finden in Entwicklungsländern Zuflucht, wo die Ernährungslage ohnehin oft sehr kritisch ist.“

Die globale Gemeinschaft habe darin versagt, die Welt für Flüchtende sicherer zu machen, sagte Gyde Jensen (FDP), Vorsitzende im Bundestagsausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe. „Unser Ziel muss sein, dass sich Menschen gar nicht erst auf eine lebensgefährliche Reise begeben müssen, um sich und ihre Familie in Sicherheit zu bringen“, sagte sie. In der EU müsse darüber diskutiert werden, dass Asylanträge auch im Ausland in den Botschaften von EU-Mitgliedsstaaten gestellt werden können.

Die Aufnahmebereitschaft für Flüchtlinge ist nicht überall gegeben. Weltweit befürwortet laut einer aktuellen Online-Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ipsos jeder Zweite Grenzschließungen für Geflüchtete im eigenen Land. Am größten ist die Zustimmung für diese Maßnahme demnach in Malaysia (82 Prozent) und der Türkei (75 Prozent), am niedrigsten in Polen (34 Prozent), Japan (38 Prozent) und in den USA (41 Prozent).

Hierzulande sind laut Umfrage mehr als vier von zehn Befragten (42 Prozent) der Ansicht, dass Deutschland seine Grenzen für Flüchtlinge derzeit vollständig schließen sollte - ein Anstieg um drei Prozentpunkte seit dem letzten Jahr, der mit der Corona-Pandemie zusammenhängen könnte. Denn generell halten es 71 Prozent der Bundesbürger für richtig, dass Menschen in Deutschland Zuflucht finden können, um vor Krieg und Verfolgung zu fliehen.

Wenig Anzeichen zur Verbesserung

Grandi sieht wenig Anzeichen für eine Verbesserung der Lage. Keine der alten Krisen - Syrien, Afghanistan, Venezuela - sei gelöst. Trotz Aufrufen etwa von UN-Generalsekretär António Guterres, angesichts der globalen Gesundheitsbedrohung durch das Coronavirus Konflikte zu beenden und als Menschheit zusammenzurücken, seien neue Krisen ausgebrochen, etwa in der Tigray-Region Äthiopiens oder im Norden Mosambiks. Die desolate Lage in manchen Ländern - darunter Südsudan, Syrien und die Zentralafrikanischen Republik - droht nach UNHCR-Angaben sogar zu einer Hungersnot zu werden.

Die Lösungen für Krisen, die Menschen in die Flucht treiben, müssten natürlich in den Heimatländern der Flüchtenden gefunden werden, sagte Grandi. Aber in der Zwischenzeit sei Solidarität gefragt. In Zeiten von Corona sei das schwer geworden. „Dass Menschen sich von A nach B bewegen, wird heute als Bedrohung angesehen, als lebensbedrohlich sogar, weil sich das Virus mit den Menschen bewegt. Aber für diejenigen, die vor Konflikt und Verfolgung flüchten, bedeutet das Leben“, sagte er. Die Zahl der Geflüchteten sei hoch, aber die Welt sei in der Lage, ihnen zu helfen. Mauern zu errichten oder Boote auf hoher See zurückzuschicken, löse die Probleme nicht.

Deutschland bietet 1,2 Millionen Menschen Schutz

Unter den Aufnahmeländern gehört Deutschland zu den großzügigsten: Es bot nach den Zahlen des UNHCR 1,2 Millionen Menschen Schutz. Doch es gibt Länder, die deutlich mehr Flüchtlinge aufnehmen:

• Türkei (3,7 Millionen)

• Kolumbien (1,7 Millionen)

• Pakistan (1,4 Millionen)

• Uganda (1,4 Millionen).

Mehr als Zweidrittel der ins Ausland Geflohenen kamen aus nur fünf Ländern:

• Syrien (6,7 Millionen)

• Venezuela (4 Millionen)

• Afghanistan (2,6 Millionen)

• Südsudan (2,2 Millionen)

• Myanmar (1,1 Millionen).

© dpa-infocom, dpa:210618-99-42894/7

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Erstellt:
18. Juni 2021, 07:28 Uhr

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