Brasilien
64 Tote bei Einsatz gegen Drogenbande in Rio de Janeiro
Eine eskalierte Polizeiaktion im armen Norden Rio de Janeiros führt zu Gewalt und Chaos. Zwischen dem zuständigen Gouverneur und der Regierung kommt es darüber zu Spannungen.
© Jose Lucena/TheNEWS2 via ZUMA Pr/Jose Lucena
Kriegsähnliche Szenen spielen sich derzeit in den Armenvierteln von Rio de Janeiro ab.
Von red/KNA
Brasiliens Metropole Rio de Janeiro hat am Dienstag den blutigsten Polizeieinsatz seiner Geschichte erleben müssen. Bei stundenlangen Feuergefechten mit der Polizei sollen laut den Behörden 60 Drogengangster getötet worden sein. Auch vier Beamte starben bei der Operation. Menschenrechtsorganisationen forderten eine lückenlose Aufklärung der Aktion.
Am Dienstagmorgen waren 2.500 Beamte ausgerückt, um in den Armenvierteln Penha und Compexo do Alemão in Rios Nordzone 67 Haftbefehle gegen mutmaßliche Angehörige der Drogenbande Comando Vermelho zu vollstrecken. Sie trafen auf erbitterten Widerstand der Bande, die Brände legte und die Polizei mit sprengstoffgeladenen Drohnen angriff. Zudem errichteten sie Straßensperren. Der Verkehr brach in einigen Teilen der Stadt über Stunden zusammen.
Die Polizei berichtet von 81 festgenommenen Personen und 93 sichergestellten Gewehren. Neun Polizisten und drei Zivilisten sollen verwundet worden sein. Angesichts der Gewalt hatten Geschäfte und öffentliche Einrichtungen geschlossen. Passanten auf dem Heimweg sahen sich plötzlich mitten in intensiven Schusswechseln gefangen.
Gouverneur beschuldigt Lula
Der Gouverneur von Rio de Janeiro, dem die Polizei unterstellt ist, beklagte sich gegenüber der Presse über mangelnde politische Unterstützung beim Kampf gegen die Drogenbanden. Die Regierung von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva habe seine Bitten zur Entsendung von gepanzerten Fahrzeugen im Frühjahr abgeschlagen, erklärte Cláudio Castro. "Rio führt diesen Kampf alleine", sagte der Gouverneur, der einen möglichen Einsatz des Militärs ins Spiel brachte.
Seine Äußerungen lösten in der Hauptstadt Brasília eine Krise mit der Regierung aus. Diese widersprach den Behauptungen Castros. Man sei stets dessen Bitten um Hilfen bei der Verbrechensbekämpfung nachgekommen. Am heutigen Mittwoch wollen die beiden Regierungen über die nächsten Schritte beraten.
Gouverneur Castro ist ein enger Verbündeter von Ex-Präsident Jair Messias Bolsonaro und ein politischer Gegner von Präsident Lula da Silva. Das Bolsonaro-Lager warf da Silva mehrfach vor, die Drogenbanden zu schützen. Experten halten dies jedoch für unwahr. Gleichzeitig wird Castro selbst von Medien Nähe zu kriminellen Banden in der Stadt nachgesagt.
Seit Jahren nimmt der Einfluss solcher Banden in der Küstenmetropole zu. So sollen mittlerweile rund 20 Prozent des Ballungsraums von ihnen dominiert werden. Comando Vermelho ("Das rote Kommando") ist dabei die sich am schnellsten ausbreitende Bande. Sie herrscht auch über zahlreiche Favelas - also Armenviertel - in der touristischen Südzone von Rio.
Gewalt-Hotspot Rio
Rio de Janeiro gilt seit Jahrzehnten als eine der gefährlichsten Städte Brasiliens. Nirgendwo sonst sterben so viele Polizisten bei Einsätzen. Gleichzeitig tötet die Polizei hier jedes Jahr zwischen 1.000 und 1.500 Personen bei Einsätzen. Das entspricht etwa der Gesamtzahl aller Personen, die in den USA von Polizisten getötet werden. Im Allgemeinen finden die Konflikte in Rios Armenvierteln statt.
Dabei kommt es immer wieder zu regelrechten Massakern an unbeteiligten Bürgern. Die bis zu diesem Dienstag blutigste Polizeiaktion fand im Mai 2021 im Stadtviertel Jacarezinho statt. Damals starben 28 Personen. Dabei gaben die Polizisten an, sich lediglich verteidigt zu haben. Menschenrechtsorganisationen warfen der Polizei jedoch Unregelmäßigkeiten und die Tötung von Zivilisten vor.
Mit 60 Getöteten übertrifft die jüngste Polizeiaktion die bisher höchste Opferzahl bei weitem. Am Dienstag verlangten Menschenrechtsorganisationen die Aufklärung der Vorkommnisse. Human Rights Watch bezeichnete die Polizeiaktion als "Katastrophe". Auch Amnesty International fand klare Worte: "Kein Gouverneur hat das Recht, ein Massaker an Menschen anzuordnen", erklärte die Direktorin der Organisation, Jurema Werneck. Gouverneur Castro habe unverantwortlich gehandelt.
Brasiliens Oberstes Gericht verlangte von Rios Gouverneur Erklärungen zu dem Polizeieinsatz. Aufgrund der hohen Zahl ziviler Opfer bei Polizeiaktionen hatte das Gericht 2019 solche Aktionen in Rios Armenvierteln stark eingeschränkt. Gouverneur Castro bezeichnete dies als kontraproduktiv. Der Gerichtsentscheid habe zu der Verbreitung der Banden in Rio de Janeiro maßgeblich beigetragen.
