Auf eigenen Wegen zur mittleren Reife

An den Backnanger Gemeinschaftsschulen haben zum ersten Mal Schüler den Realschulabschluss gemacht

Als die Mörikeschule und die Tausschule in Backnang vor sechs Jahren zu Gemeinschaftsschulen wurden, betraten Lehrer und Schüler Neuland. Kinder mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen und Begabungen gemeinsam zu unterrichten, war eine Herausforderung. Aber es funktioniert: In diesen Tagen verlassen die ersten Absolventen mit mittlerer Reife die beiden Schulen.

Individuelle Förderung statt Frontalunterricht: Klassenlehrerin Anne Leube bereitet Lukas Hellmann und Eyleen Mönnich an der Mörikeschule auf die Abschlussprüfungen vor.

© Jörg Fiedler

Individuelle Förderung statt Frontalunterricht: Klassenlehrerin Anne Leube bereitet Lukas Hellmann und Eyleen Mönnich an der Mörikeschule auf die Abschlussprüfungen vor.

Von Kornelius Fritz

BACKNANG. An ihre Grundschulzeit hat Selmina Rekic keine guten Erinnerungen. „Ich war nicht gut in der Schule und habe mich auch nicht getraut, die Lehrer anzusprechen, wenn ich etwas nicht verstanden hatte“, erzählt die 15-Jährige. So bekam sie am Ende der 4. Klasse nur eine Empfehlung für die Werkrealschule. Doch als sie 2013 an die Backnanger Mörikeschule kam, die damals gerade zur Gemeinschaftsschule wurde, blühte die Schülerin förmlich auf. „In Deutsch und Mathe habe ich auf dem Grundniveau angefangen, bin dann aber immer besser geworden“, erzählt sie. Das Selbstbewusstsein wuchs, und vor den Lehrern hatte sie auch keine Angst mehr. Vor wenigen Tagen hat Selmina Rekic nun die Prüfungen für die mittlere Reife bestanden. Und das soll noch nicht das Ende sein: „Jetzt will ich Abi machen“, sagt die 15-Jährige. Ab September wird sie das Wirtschaftsgymnasium besuchen.

Lehrer unterrichten auf drei Niveaustufen

Wenn ihre Rektorin Karin Moll solche Erfolgsgeschichten hört, weiß sie, dass sich die viele Arbeit der vergangenen Jahre gelohnt hat. „Wir gehen individuelle Wege mit unseren Schülern“, sagt die Rektorin, die 2016 von der Aspacher Conrad-Weiser-Schule an die Mörikeschule kam. Der Start der neuen Schulart war für Schulleitung und Lehrer ein Sprung ins kalte Wasser. „Am Anfang war es manchmal ein bisschen chaotisch“, erinnert sich Schüler Lukas Hellmann von der Mörikeschule.

Melanie Andergassen hat in dem Neustart aber auch eine Chance gesehen. „Wir hatten viele Freiheiten, die Schule nach unseren Vorstellungen zu gestalten“, erzählt die Lehrerin von der Tausschule. In Arbeitsgruppen entwickelten die Pädagogen Konzepte für ein neues Lernen. Individuelle Förderung statt ein Unterricht für alle, lautete das Motto. Das bedeutete auch für die Lehrer eine große Umstellung, zumal die Kollegen die entsprechenden Fortbildungen erst nach und nach besuchen konnten.

Die Hauptfächer werden an der Gemeinschaftsschule auf unterschiedlichen Niveaustufen angeboten: vom G-Niveau, das der früheren Hauptschule entspricht, über M- (Realschule) bis zum E-Niveau (Gymnasium). Wobei die Gemeinschaftsschule die einzige Schulart ist, in der ein Schüler in verschiedenen Fächern auf unterschiedlichem Niveau unterrichtet werden kann. In sogenannten Coachinggesprächen werden die Lernerfolge regelmäßig besprochen und neue Ziele definiert. Auch außerschulische Probleme sind in diesen Gesprächen Thema. „Uns geht es nicht nur darum, Wissen zu vermitteln, sondern wir wollen die Jugendlichen in ihrem Lernprozess begleiten“, sagt Lehrerin Anne Leube von der Mörikeschule. Auch die Eltern spielen dabei eine wichtige Rolle: In Lernentwicklungsgesprächen werden sie zweimal pro Schuljahr ausführlich über die Entwicklung ihrer Kinder informiert.

„Unser Ziel ist, dass jedes Kind den bestmöglichen Abschluss schafft“, sagt Leube. Welcher das ist, bleibt bis zur 8. Klasse offen. Erst dann wird in einer Konferenz entschieden, ob ein Schüler den Hauptschulabschluss nach der 9. oder nach der 10. Klasse anpeilt oder ob er sogar die mittlere Reife schaffen kann. Von rund 70 Schülern, die 2013 an der Mörikeschule gestartet sind, verlassen nun 26 die Schule mit einem Realschulabschluss, an der Tausschule sind es 31. Der Beweis, dass auch Gemeinschaftsschulen ihre Schüler zur mittleren Reife führen können, ist also erbracht. Fast noch wichtiger ist Melanie Andergassen aber die persönliche Entwicklung ihrer Schüler: „Wenn ich sehe, zu was für tollen jungen Menschen sie herangereift sind, macht mich das mehr stolz als jeder Abschluss.“

„Die Schullandschaft ist vielfältiger geworden“

Fragt man die Absolventen, so hört man nur Gutes über die neue Schulart. „Hier wird man gefördert, wenn man Hilfe braucht“, sagt Eyleen Mönnich von der Mörikeschule. Tausschülerin Zerda Türkoglu schwärmt von der positiven Atmosphäre an ihrer Schule: „Ich habe mich wie in einer Gemeinschaft gefühlt.“ Und auch Romy Bernhard hat ihre Schulwahl nie bereut, obwohl sie nach der Grundschule sogar eine Gymnasialempfehlung hatte. Das Abi will sie jetzt aber trotzdem noch machen und wechselt deshalb nach den Sommerferien aufs technische Gymnasium.

Auch Rektoren und Lehrer sind mit der Entwicklung der Gemeinschaftsschule zufrieden. „Die Schullandschaft ist vielfältiger geworden“, sagt Anne Leube. Geärgert haben sich die Lehrer lediglich darüber, dass das Kultusministerium den Schulen zunächst alle Freiheiten ließ, um später dann doch noch Vorgaben zu machen. „Da fühlten wir uns zurückgepfiffen“, sagt Karin Moll.

Mit dem Abschied vom ersten Jahrgang sei die Entwicklung der neuen Schulart noch nicht abgeschlossen, betonen die Verantwortlichen. Wo Bedarf besteht, wollen die Schulen weiter nachbessern. Die Erleichterung nach den ersten erfolgreichen Prüfungen ist ihnen dennoch anzumerken. „Ich denke, wir haben gezeigt, dass wir uns nicht verstecken müssen“, sagt Melanie Andergassen.

Bei Melanie Andergassen von der Tausschule findet der Englischunterricht auch mal auf der Treppe statt. Wenn Zerda Türkoglu, Romy Bernhard und Selmina Rekic (von links) eine Vokabel wissen, dürfen sie sich eine Stufe höher setzen. Fotos: J. Fiedler

© Jörg Fiedler

Bei Melanie Andergassen von der Tausschule findet der Englischunterricht auch mal auf der Treppe statt. Wenn Zerda Türkoglu, Romy Bernhard und Selmina Rekic (von links) eine Vokabel wissen, dürfen sie sich eine Stufe höher setzen. Fotos: J. Fiedler

Info
Gemeinschaftsschulen

Im Rems-Murr-Kreis gibt es insgesamt
19 Gemeinschaftsschulen. Als erste ging 2012 die Gemeinschaftsschule in Korb an den Start: Dort haben bereits vor einem Jahr die ersten Schüler den Realschulabschluss gemacht. In diesem Schuljahr war es neben den beiden Backnanger Schulen auch an der Ludwig-Uhland-Schule in Schwaikheim so weit.

An der Gemeinschaftsschule Korb haben laut Staatlichem Schulamt in diesem Schuljahr 42 Schülerinnen und Schüler an den Realschulprüfungen teilgenommen, an der Tausschule waren es 34 Schüler, an der Mörikeschule 28 und an der Ludwig-Uhland-Schule 22.

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Erstellt:
12. Juli 2019, 08:04 Uhr

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