Auftritt in zugiger Höhe

Egal ob’s regnet, stürmt, schneit oder eine Pandemie die Welt verschüttelt: Sonntagmorgens um neun spielen die Turmbläser hoch oben auf dem Michaelsturm in Backnangs Stadtmitte. Die Tradition reicht bis 1848 zurück.

Zu zweit dürfen sie in schwierigen Coronazeiten vom Turm blasen: Lukas Braun (Trompete) und Manuel Schwaderer (Bariton). Fotos: A. Becher

© Alexander Becher

Zu zweit dürfen sie in schwierigen Coronazeiten vom Turm blasen: Lukas Braun (Trompete) und Manuel Schwaderer (Bariton). Fotos: A. Becher

Von Renate Schweizer

BACKNANG. Es ist Volkstrauertag im zweiten Lockdown. Lockdown „light“ hin oder her – nur zwei Turmbläser dürfen spielen und die mit großem Abstand. Nichtsdestotrotz: Lukas Braun und Manuel Schwaderer sind bestens aufgelegt – wie’s scheint, freuen sie sich auf ihren Auftritt hoch oben auf dem Michaelsturm am Sonntagmorgen.

„Ist ja die einzige Gelegenheit, überhaupt noch Musik zu machen“, erklärt Braun fröhlich. Die Zeitungsfrau freut sich auch: Mit den Turmbläsern hoch hinauf – das ist aufregend.

Man trifft sich unten, es ist kurz nach halb neun. Die Temperatur ist niedrig zweistellig im Plus – nicht schlecht für Mitte November. Braun und Schwaderer werfen sich in ihre Turmbläser-Uniformen – eine Gabe des Oberbürgermeisters, der bekanntlich ein großer Fan der Backnanger Stadtmusikanten ist. Blau-gelb natürlich, in den Stadtfarben, mit so, nun ja, nennen wir’s Mittelalter-Touch. Unten gucken Turnschuhe und weiße Tennissocken raus – was soll’s?! Wenn sie erst oben auf der Brüstung stehen, sieht das keiner mehr.

Da streben sie jetzt auch einigermaßen energisch hin. „Gut, wenn wir an den Glocken vorbei sind, bevor die die Dreiviertelstunde schlagen“, warnt Schwaderer. „Kann ziemlich laut werden, wenn man grade danebensteht.“ Über die Fluchttreppe des Bandhauses geht es nach oben: Man streift die Galerie der Stadt Backnang und kommt erst noch in ein „normales“ Treppenhaus, dann wird der Aufgang zur schmalen hölzernen Bühnenleiter an den Glocken vorbei genommen.

Hier gibt’s einen kleinen Zwischenstopp, damit Schwaderer sein Instrument auspacken kann. „Der Instrumentenkoffer ist zu breit für die Stiege, wir kommen leichter hoch, wenn er unten bleibt.“ Wohlan, mit nackigem Bariton geht’s weiter, grade noch rechtzeitig, die Glocke hält still, bis alle vollends oben sind.

Im Turmstübchen lagern die Noten für die unterschiedlichen Anlässe.

Im Turmstübchen finden sich Ordner in den Farben Rot, Gelb, Grün, Blau und Schwarz. Heute – es ist ja Volkstrauertag – muss es der schwarze Ordner sein mit einer Riesenauswahl an getragenen Liedern für dunklere Anlässe. Die anderen Farben stehen für die verschiedenen Jahreszeiten – klar, im Frühling spielt man andere Lieder als zu Weihnachten.

Seit 1848 (spätestens, anlassweise sicher auch schon früher) erfreuen Turmbläser die Backnanger Bürgerinnen und Bürger allsonntäglich und an allen Feiertagen, da kommt einiges zusammen in der Liedersammlung. Lieder, die heute kaum einer mehr kennt, sind dabei und solche, die immer schon und immer noch oder überhaupt jetzt erst musikalisches Allgemeingut sind. „In den letzten Jahren hat sich Dekan Braun immer wieder Lieder gewünscht, die wir dann auch in der Sammlung aufgenommen haben“, berichten die Bläser. Die Notenblätter sind eingeschweißt und werden mit dicken Klammern an den Notenständern befestigt – natürlich, nicht nur die Musikanten, auch die Notenblätter müssen allerlei wetterliche Unbilden aushalten hier oben.

Die Musiker haben nur wenige Minuten Zeit für die Auswahl und einigen sich schnell. „Wie wär’s mit der 51 und der 54?!“ – „Okay und die 46 könnt man eigentlich auch noch machen.“ Offenbar können sie alles, und zwar vom Blatt. Drei Kirchenlieder wählen sie heute aus (da freut sich hoffentlich der Dekan, der um die Ecke wohnt und natürlich die Turmbläser hört) und zu guter Letzt noch ein ganz bekanntes Lied, ebenso oft gespielt auf Trauerfeiern wie auf Hochzeiten: „Ich bete an die Macht der Liebe“. Zwischendurch immer wieder der Blick auf die Uhr: Direkt nach dem 9-Uhr-Läuten sollte es losgehen – und im Idealfall fällt der Viertelstundenschlag auf die letzten Töne des letzten Liedes.

Die Auswahl steht. Die Glocken läuten. Raus auf den schmalen Balkon des Michaelsturms – die Musiker routiniert und völlig gelassen, die Zeitungsfrau braucht ein paar Sekunden, bis sich ihr Herzschlag wieder beruhigt: Ist doch ziemlich hoch hier. Den Musikern scheint das nichts auszumachen. „Ich glaube, ich kann die Sonntage, an denen ich in den letzten fünf Jahren nicht gespielt habe, an einer Hand abzählen – irgendwie sind wir alle eigentlich immer da“, hat Braun vorhin noch erzählt. „Das Schlimmste, was mir hier oben passiert ist, waren festgefrorene Klappen am Bariton“, ergänzte Schwaderer. Höhe? Die bemerken sie gar nicht. Sie haben Besseres zu tun.

Weich und voll erklingen die Töne über der scheinbar noch schlafenden Stadt. Doch, da bleiben ein paar Passanten stehen, freuen sich und winken. Und in einigen Häusern sind die Fenster geöffnet – da hört jemand zu. In alle vier Himmelsrichtungen spielen sie nacheinander, immer die Zeit im Blick, es ist Präzisionsarbeit, noch anderthalb Minuten, okay, also mit Wiederholung diesmal.

Der Viertelstundenschlag kommt auf den drittletzten Ton, klingt nach bis zum Schlussakkord. „Punktlandung“ freut sich Braun. Und dann packen sie die Instrumente weg und die schwarzen Ordner und die Notenständer und machen sich auf den langen Weg hinunter. Die Turmbläser haben Feierabend. Der Sonntag kann beginnen.

Am Notenschrank legen die Musiker die Notenauswahl für den aktuellen Tag fest.

© Alexander Becher

Am Notenschrank legen die Musiker die Notenauswahl für den aktuellen Tag fest.

Sieben historische Kostüme

Es gibt neun Turmbläser, die Leitung hat Albert Lang (Trompete). Normalerweise sind sie zu fünft oben, das heißt, man ist wirklich dauernd dran und es gibt noch jede Menge Zusatztermine.

Lukas Braun (Trompete) kommt aus dem Städtischen Blasorchester, Manuel Schwaderer (Tenorhorn) kommt vom Musikverein Burgstetten.

Die sieben historischen Kostüme wurden im November 2015 für den Auftritt beim Weihnachtsmarkt angeschafft. Seit 1918 gibt es eine (kleine) finanzielle Anerkennung für die Turmbläser aus dem städtischen Haushalt.

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Erstellt:
16. November 2020, 06:00 Uhr

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