Beginn der Backnanger Industrialisierung

Blick in das Archiv von Peter Wolf: Die Adolff-Firmengruppe war einst die größte Spinnerei in Deutschland. Nicht nur durch Erfolg, sondern auch durch soziales Engagement zeichnete sich das Backnanger Unternehmen aus.

Die Spinnerei Adolff mit vorgebautem Heizhaus und Gemüsegarten 1916, rechts das Marienheim. Repros: P. Wolf

Die Spinnerei Adolff mit vorgebautem Heizhaus und Gemüsegarten 1916, rechts das Marienheim. Repros: P. Wolf

Von Claudia Ackermann

BACKNANG. Als Beginn der Industrialisierung in Backnang wird das Jahr 1832 und die Gründung der „Oberen Spinnerei“, später „J. F. Adolff“, markiert. Sie entsprach den Kriterien, die dem Begriff „Industrie“ allgemein zugeordnet werden: Kapitaleinsatz, mechanisierter Betrieb, weitgehende Arbeitsteilung und die Beschäftigung von ungelernten und angelernten Arbeitskräften mit dem Ziel der Massenproduktion, schreibt Rudolf Kühn in seinem Aufsatz: „Die Frühzeit der Industrie in Backnang“ im Backnanger Jahrbuch Band 3 von 1995. Im Februar 1832 erwarben die Kaufleute Heinrich Grunsky aus Stuttgart und Friedrich Koch aus Güglingen in Backnang eine zwei Jahre zuvor errichtete Ölmühle an der Weißach, um darin unter dem Namen Grunsky, Koch und Cie. eine mechanische Spinnerei einzurichten. Die Impulse, die zur Gründung der Spinnerei führten, gingen von dem Backnanger Tuchscherer Immanuel Adolff aus, der stiller Teilhaber war.

Immanuel Adolffs Sohn, Johann Friedrich, stieg 1834 in das Unternehmen ein, übernahm es im Jahr 1839 vollständig und gab ihm den Namen Spinnerei J. F. Adolff, informiert das Backnang-Lexikon. Die nächsten Jahrzehnte waren geprägt durch die Umstellung des Betriebs von der Lohn- zur Verkaufsspinnerei und der Einführung des Baumwollspinnens. Mit der Aufstellung einer ersten Dampfmaschine im Jahr 1863 konnte sich die Spinnerei nach und nach von der bis dahin genutzten Wasserkraft unabhängig machen und läutete damit eine weitere Phase der Industrialisierung ein, die durch den Eisenbahnanschluss Backnangs in den Jahren 1876 bis 1879 noch erheblich verstärkt wurde.

Ein Drittel aller Arbeitnehmer in Backnang arbeiten in der Spinnerei.

In den rund 30 Jahren danach entwickelte sich das Unternehmen unter der Leitung von Eugen Adolff, der 1860 in das Unternehmen eingetreten war, zu einer der größten Spinnereien im Deutschen Reich und zog ein für Backnang einzigartiges Bauprogramm durch, das die Größe der Fabrikanlage bis 1910 mehr als verdreifachte. 1912 bekam die Spinnerei Adolff eine eigene Bahnhaltestelle namens „Backnang-Spinnerei“, die zu einem deutlichen Anstieg der Pendlerzahlen führte.

Die Umwandlung der bisherigen Offenen Handelsgesellschaft in eine Aktiengesellschaft erfolgte 1928. Im Jahr darauf benannte man die Steinbacher Straße in Eugen-Adolff-Straße um, zu Ehren des 1925 verstorbenen Unternehmers. Als größte Tochterfirma wurde 1935 die Kammgarnspinnerei Kaiserslautern erworben und in den Jahren 1936 bis 1938 entstanden Zweigwerke in Ehingen, Dietenheim und Illertissen. Im Backnanger Hauptwerk beschäftigte man im Jahr 1939 rund 1650 Mitarbeiter, was zu der Zeit fast einem Drittel aller in Backnang Beschäftigten entsprach. Mitte der 1970er-Jahre war die Adolff-Firmengruppe mit etwas über 8000 Mitarbeitern und rund 400 Millionen DM Umsatz die drittgrößte Textilgruppe und die mit Abstand größte Spinnerei in Deutschland, so das Backnang-Lexikon.

„Mama in der Spinne“ nennt die Tochter von Marianne Gloger (rechts) dieses Foto, das in den 1950er-Jahren entstand.

„Mama in der Spinne“ nennt die Tochter von Marianne Gloger (rechts) dieses Foto, das in den 1950er-Jahren entstand.

Die Spinnerei Adolff war nicht nur ein sehr erfolgreiches Unternehmen, sondern zeichnete sich auch durch ein vorbildliches soziales Engagement für seine Mitarbeiter aus. In dem Aufsatz „Soziale Verantwortung eines Unternehmens - Einblicke in das umfassende Sozialprogramm der Spinnerei J. F. Adolff“ im Backnanger Jahrbuch Band 24 von 2016 geht Antje Hagen auf die sozialen Leistungen ein. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Arbeiterhäuser mit Werkswohnungen gebaut, die weit unter dem üblichen Mietpreis lagen. Im Jahr 1906 entstanden Werkbäder für die Mitarbeiter im neu erbauten Färberei- und Bleichereigebäude. Das Marienheim, ein Wohnheim für auswärtige Arbeiterinnen, ließ Eugen Adolff 1907 bauen. In der Werkskantine und den Werksküchen konnten sich die Mitarbeiter verpflegen. lm Speisesaal des „Marienheims“ gab es täglich ein preiswertes Mittagessen. Die Werkskantine, die sich im alten Bau an der Weißach befand, verkaufte Lebensmittel zum Einkaufspreis. Ein eigener Gemüsegarten war vor dem Fabrikgebäude angelegt.

Kostenlose Kinderbetreuung und eine eigene Krankenstation.

Die „Adolff-Hilfe e.V.“ wurde 1938 ins Leben gerufen. Diese Unterstützungskasse leistete Hilfe für Betriebsangehörige, die durch längere Krankheit oder Betriebsunfälle unverschuldet in Not geraten waren oder zahlte Zusatzrenten aus. In den 1940er-Jahren kaufte das Unternehmen ein 180 Ar großes Gelände in der Nähe der Spinnerei-Bahnhaltestelle, um Parzellen an Mitarbeiter für den Obst- und Gemüseanbau gegen eine geringe Anerkennungsgebühr zu verpachten. In zwei neu erstellten Baracken eröffnete man 1941 einen betriebseigenen Kindergarten mit Krippe, Hort und Säuglingspflegestation, in dem die Kinder der Mitarbeiterinnen kostenlos betreut wurden. Betriebssport wurde im Unternehmen gefördert. So entstand 1941 ein eigener Sportplatz, auf dem Wettbewerbe mit den Zweig- und Tochterwerken ausgetragen wurden. Die Spinnerei verfügte über eine eigene Krankenstation mit Betriebsarzt, und erholungsbedürftige Mitarbeiter mit längerer Betriebszugehörigkeit wurden sogar in einen kostenlosen Erholungsurlaub in den Schwarzwald geschickt. Neben dem Werksgelände baute man 1966 den „Adolff-Markt“, als Einkaufsmöglichkeit, die durch die kurzen Wege für die Betriebsangehörigen eine große Zeitersparnis bedeutete, informiert der Aufsatz.

Kurioser Schnappschuss: Eine „Sitzung“ im betriebseigenen Kindergarten der Spinnerei. Dieser wurde 1941 eröffnet.

Kurioser Schnappschuss: Eine „Sitzung“ im betriebseigenen Kindergarten der Spinnerei. Dieser wurde 1941 eröffnet.

Um der zunehmenden Konkurrenz der Niedriglohnländer zu begegnen, investierte die Spinnerei Adolff in den 1970er-Jahren in neue Produktionsbereiche. Sie brachte mit der Polital-Faden- und Gewebetechnik sowie dem Poligras-Kunstrasen zwei völlig neue Fertigungsbereiche auf den Markt, heißt es im Backnang-Lexikon weiter. Vor allem der Bereich Poligras entwickelte sich positiv. Für die Olympischen Spiele 1980 in Moskau konnte Adolff zwei Sportfelder liefern. In jenem Jahr entstand auf der Sportanlage Büttenenfeld (heute: Karl-Euerle-Sportanlage) in Backnang auch das erste Poligras-Spielfeld in Baden-Württemberg. Allerdings konnten die Erfolge im Kunststoffbereich nicht verhindern, dass die Zahl der Mitarbeiter immer weiter sank. Im August 1989 gab die Firma Adolff die Schließung ihres Produktionsstandorts Backnang bekannt. Das Werksareal wurde an den Münchener Investor Doblinger Industriebau (DIBAG) veräußert, der daraus einen Industrie- und Gewerbepark schuf. Im März 1991 folgte das Konkursverfahren der J. F. Adolff AG. Damit endete die fast 160-jährige Firmentradition. Im Hauptgebäude befindet sich heute unter anderem das Finanzamt Backnang.

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Erstellt:
12. April 2021, 06:00 Uhr

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