Buch über Bosnienkrieg: „Kriegsopfer ist man ein Leben lang“

Mirsada Simchen-Kahrimanović hat ein Buch über die Erfahrungen geschrieben, die sie als junges Mädchen im Bosnienkrieg und danach als Kriegsflüchtling in Deutschland gemacht hat. Darin vermittelt sie nicht nur die Folgen von Krieg, sondern will auch ein Zeichen für Frieden setzen.

Die Backnangerin Mirsada Simchen-Kahrimanović hat eine Autobiografie über ihre Kriegs- und Fluchterfahrung im Bosnienkrieg geschrieben. Dass das Buch nun im Handel erhältlich ist, kann sie selbst kaum fassen. Foto: Alexander Becher

© Alexander Becher

Die Backnangerin Mirsada Simchen-Kahrimanović hat eine Autobiografie über ihre Kriegs- und Fluchterfahrung im Bosnienkrieg geschrieben. Dass das Buch nun im Handel erhältlich ist, kann sie selbst kaum fassen. Foto: Alexander Becher

Von Kristin Doberer

Backnang. „Was heißt Krieg?“ Diese Frage ist heute wohl so aktuell, wie es sich viele Menschen in Deutschland noch vor einem Jahr nicht hätten vorstellen können. Doch nun drehen sich die Nachrichten um Frontlinien, die Zahl gelieferter Waffen und gefallener Soldaten. Dass Krieg aber viel mehr ist als Daten, Zahlen und Fakten, zeigt die Backnangerin Mirsada Simchen-Kahrimanović in ihrer Autobiografie „Lauf, Mädchen, lauf!“. Als 13-jähriges Mädchen hat sie den Krieg und Völkermord in Bosnien und Herzegowina in den 1990er-Jahren erlebt.

30 Jahre später schrieb sie nun – basierend auf ihren Tagebüchern als Jugendliche – ein Buch über den brutalen Angriff auf ihr Dorf, die Ermordung ihres Vaters, die wochenlange Inhaftierung im Lager Trnopolje, die Flucht und schwierige Integration in Deutschland (wir berichteten). Authentisch und persönlich erzählt sie, was Krieg neben den Fakten und Zahlen für die Betroffenen bedeutet. Was es heißt, als Zivilistin einen Krieg zu erleben und zu überleben, welche Traumata, Langzeit- und Spätfolgen daraus entstehen können.

Sie schildert die schrecklichen Erlebnisse

„Mein Alltag kannte plötzlich nur noch Erschießen, Erstechen und Erschlagen. Verhungern und Verdursten. Unvorstellbare Grausamkeiten, ohne Fluchtmöglichkeit oder Ausweg. Mörderische Panzer, Dörfer in Flammen und das Entsetzen in den Gesichtern der Erwachsenen. Die, die immer stark waren, wurden zu Opfern. Die Welt stand kopf in diesen Tagen“, erinnert sich die heute 42-Jährige in ihrem Buch an die ersten Tage und Wochen, nachdem die serbische Armee ihr Dorf Kozaruša überfallen hat. Während der Vater zurückbleibt, flüchtet die damals 13-Jährige mit ihrer Mutter und Schwester, wird aber nach nur wenigen Tagen aufgegriffen und in das Lager Trnopolje gesteckt. Hier erlebt sie Terror und sexuellen Missbrauch der gefangenen Frauen durch serbische Soldaten. Neben den ganz persönlichen Erinnerungen ordnet sie das Geschehene aber auch in den geschichtlichen Rahmen ein. „Es soll nicht nur um mich gehen, sondern um die Geschichte meines Volkes“, erzählt sie.

Das Ziel: Schülerinnen und Schülern den Wert von Frieden vermitteln

Für Simchen-Kahrimanović ist klar: Um solche Gewalt zu verhindern, muss man die Opfer und auch die Folgen von Krieg öffentlich machen. Das möchte sie besonders in den Schulen erreichen: „Der Balkankrieg ist in den Klassenzimmern unsichtbar, er kommt in den Lehrplänen kaum vor“, sagt sie. Um das zu ändern, richtet sich das Buch vor allem an Schülerinnen und Schüler. Ihr langfristiges Ziel: Das Buch soll im Bildungsplan integriert werden, ein Netzwerk oder eine Bildungsinitiative mit anderen Werken über den Bosnienkrieg soll entstehen.

Kurzfristig möchte sie mit Lesungen und Vorträgen vor allem in Schulen mehr Aufmerksamkeit auf das Thema lenken und Lehrpersonal auf das Buch aufmerksam machen. Neben einer Lesung in Stuttgart am 28. September stehen auch schon einige Termine für Vorträge in den Schulen an – und das überall in Deutschland, zum Beispiel in Leipzig, Berlin und Freiburg.

Das Buch ist erst ab der Klassenstufe 8 geeignet

In den Vorträgen möchte sie die Kinder miteinbeziehen, wenn sie anhand von kurzen Lesungen aus dem Buch die Themen Krieg, ethnische Vertreibung, Flucht und auch Versöhnung angeht. Den Jugendlichen möchte sie dadurch vermitteln, wie sie selbst für mehr Empathie, Toleranz, Verbundenheit und moralische Widerstandsfähigkeit eintreten können. „Ich will zeigen, dass sie selbst auch ein wenig für Frieden verantwortlich sein können, das beginnt bei den Mitmenschen.“

Dabei wichtig für sie: Das Buch ist erst ab der Klassenstufe 8 geeignet, da es auch viele schreckliche Beobachtungen thematisiert, darunter Vergewaltigung, Folter und Mord. „Außerdem frage ich, ob ukrainische Kinder in den Klassen sind, denn diese möchte ich nicht retraumatisieren“, sagt die Autorin. Gerade für die Lehrerinnen und Lehrer sowie für die Mitschüler von Kriegsflüchtlingen hofft sie etwas Einblick in die Gedankenwelt der geflüchteten Kinder schaffen zu können – und damit Einfühlungsvermögen und Geduld. „Ich will, dass sich heute kein Kind so gedemütigt fühlt wie ich damals“, sagt sie und spielt damit auf die zweite Hälfte des Buches an, die sich um die Ankunft in Deutschland dreht. Ohne Sprachkenntnisse, gefangen in der Trauer um ihren Vater und erschüttert vom Erlebten sei die Integration schwer gewesen.

Buch über Bosnienkrieg: „Kriegsopfer ist man ein Leben lang“

In dem Buch geht es aber nicht nur um die grausamen Folgen des Krieges, sondern auch um mehr Toleranz zwischen Völkern und Religionen sowie darum, ein Zeichen für den Frieden zu setzen. „Ich möchte kein Mitleid, sondern wollte aus all dem Negativen etwas Positives schaffen“, sagt die Autorin, die nach der Flucht in Kaisersbach aufgewachsen ist und seit etwa 15 Jahren in Backnang lebt. So schreibt sie über ihren eigenen Umgang mit dem Trauma, über Therapie, aber auch über ihre Ausbildung, später sogar Studium, und ihre Familie. „Ich will jungen Menschen auch Hoffnung machen“, sagt sie.

Ende Juli ist ihr Buch – nach nächtelangem Schreiben neben ihrer Haupttätigkeit in der Autobranche – erschienen, die ersten Rückmeldungen freuen die neue Autorin: „So ein großes Interesse habe ich zuerst gar nicht erwartet“, sagt sie. Schon in der ersten Woche habe sich das Buch gut verkauft und die Rezensionen seien positiv. Auch ihre Mutter, deren Geschichte natürlich einen Teil des Buches ausmacht, sei unglaublich stolz und habe sie in den vergangenen Monaten viel bei der Suche nach einem passenden Verlag unterstützt. Der Verlag wbg Theis, der vor allem zu Bildungs- und Wissenschaftsthemen veröffentlicht, habe sich gleich für ihr Buch begeistern lassen. Und selbst Christian Schmidt, der Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina, hat ein Nachwort verfasst.

Auch 30 Jahre nach Kriegsende gibt es noch viele Probleme

Besonders wichtig war ihr aber auch die Rückmeldung von denen, die Ähnliches erlebt haben. Vor einigen Jahren hat sie ihr Elternhaus wiederaufgebaut, besucht regelmäßig ihre Heimat und spricht dort auch mit den Menschen über deren Erfahrungen im Krieg. Dort will sie sich in Zukunft stärker engagieren, denn auch 30 Jahre nach Kriegsende gibt es noch viele Probleme. „Arbeitslosigkeit, Korruption und die schwierige Verständigung zwischen den Bevölkerungsgruppen sorgen dafür, dass immer mehr junge Leute das Land verlassen“, berichtet Simchen-Kahrimanović. Sie will sich für eine bessere Berufsausbildung in ihrem Heimatland einsetzen und dafür, dass sich mehr große internationale Firmen dort ansiedeln.

„Lauf, Mädchen, lauf!“

Bosnienkrieg Der Krieg in Bosnien von 1992 bis 1995 war der grausamste Konflikt in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. 1992 erklärte Bosnien-Herzegowina seine Unabhängigkeit von Jugoslawien. Als Antwort darauf begannen serbische Einheiten sogenannte „ethnische Säuberungen“ unter der bosniakischen Bevölkerung durchzuführen. Rund 100000 Menschen starben, über 700000 Menschen flüchteten.

Buch Das Buch „Lauf, Mädchen, lauf!“ von Mirsada Simchen-Kahrimanović ist am 19. Juli bei wbg Theiss erschienen. Das Hardcover ist im Handel für 22 Euro erhältlich, das Buch hat eine Länge von 144 Seiten. ISBN 978-3-8062-4549-3.

Lesung Die erste Lesung hier in der Region ist am Mittwoch, 28. September, von 18 bis 19.30 Uhr. Sie findet im Buchhaus Wittwer-Thalia, Königstraße 30 in Stuttgart, statt.

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Erstellt:
27. September 2022, 11:30 Uhr

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