Zusätzlich 60.000 Soldaten benötigt
Das deutsche Dilemma mit der Wehrpflicht
Deutschland braucht zusätzlich 60.000 Soldaten, sagt der Verteidigungsminister. Ohne Wehrpflicht dürfte das kaum erreichbar sein. Doch sie einzuführen, birgt mehrere rechtliche Klippen.

© Klaus-Dietmar Gabbert/dpa-Zentra
Wehrdienstleistende beim Zeltaufbau: Die Bundeswehr soll um Zehntausende Soldaten wachsen.
Von Tobias Heimbach
Als im Februar 2022 russische Truppen zur vollständigen Invasion in der Ukraine einmarschierten, reagierte Deutschland. Der Bundestag legte ein Sondervermögen über 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr auf. Im Land entstehen seitdem neue Fabriken für Munition und Drohnen. Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) hat erklärt, die Bundeswehr solle zur „stärksten Armee Europas“ werden. Es ist also bereits viel geschehen. Doch die größte Veränderung steht womöglich bevor: eine Rückkehr der Wehrpflicht.
Die Diskussion darum läuft schon jahrelang, erhält nun aber eine neue Dringlichkeit. Denn die Nato will angesichts der Bedrohung durch Russland aufrüsten. Die Mitgliedsländer müssen mehr Geld bereitstellen – und mehr Truppen. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) sagte, er rechne damit, dass Deutschland bis zu 60.000 zusätzliche aktive Soldaten brauche.
Viele Hürden
Ohne Wehrpflicht ist das nach Ansicht vieler nicht zu schaffen. Deren Wiedereinführung fordern so unterschiedliche Stimmen wie der Bundeswehrverband oder der frühere Außenminister der Grünen, Joschka Fischer. Er sagte dem „Spiegel“: „Wenn wir abschreckungsfähig werden wollen, wird das ohne eine Wehrpflicht nicht gehen.“
Doch die rechtlichen, praktischen und politischen Hürden sind erheblich. Die Schwierigkeit besteht darin, eine Form für den Wehrdienst zu finden, die der Truppe nützt und gleichzeitig vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand hat. Oder für die es eine politische Mehrheit gibt. Bundesregierung und Bundeswehr stehen vor einem Dilemma.
Derzeit bereitet Verteidigungsminister Pistorius einen „neuen Wehrdienst“ vor. Die größte Neuerung daran ist, dass junge Menschen rund um den 18. Geburtstag Post von der Bundeswehr erhalten und anschließend einen Fragebogen ausfüllen sollen. Diesen zu beantworten ist für Männer verpflichtend, für Frauen freiwillig.
Angelehnt ist das Modell an das Wehrdienstmodell in Schweden. Dort gilt es für Männer und Frauen, es gibt aber einen weiteren entscheidenden Unterschied: Melden sich nicht genügend Freiwillige, können jungen Menschen auch zum Dienst verpflichtet werden. In Deutschland ist das nach gängiger Rechtsauffassung nicht möglich. „Auf der rechtlichen Seite liegt das Problem darin, ob es zulässig ist, nur relativ kleine Anteile eines Jahrgangs effektiv einzuziehen“, sagt Sebastian von Kielmansegg, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Universität Kiel dieser Redaktion.
Am einfachsten wäre es wohl, die Wehrpflicht, wie sie bis 2011 galt zu reaktivieren. Laut Grundgesetz betrifft sie Männer ab 18 Jahren. Die Koalitionsmehrheit von Union und SPD wäre für eine Reaktivierung ausreichend. Doch dieser Schritt könnte wiederum dazu führen, dass die Bundeswehr mit der großen Zahl an Wehrpflichtigen überfordert wäre. Einfach weniger Wehrpflichtige einzuziehen, würde im Gegenzug wohl ebenfalls nicht funktionieren, weil das gegen die im Grundgesetz festgehaltene Garantie der Gleichbehandlung verstoßen würde.
Änderung des Grundgesetzes
Ausgeschlossen wäre diese Variante damit aber nicht. Jurist von Kielmasegg erwartet, dass die Richter am Bundesverfassungsgericht auch das sicherheitspolitische Umfeld und die praktischen Zwänge der Bundeswehr in ihre Bewertung einfließen lassen, sollten junge Menschen ihre Einberufung juristisch anfechten. „Die Gerichte werden voraussichtlich nicht auf einer reinen Lehre der Wehrgerechtigkeit bestehen, so wie sie das auch vor der Aussetzung der Wehrpflicht schon nicht getan haben“, sagt der Jurist Sebastian von Kielmansegg.
Wollte man eine Wehrpflicht völlig neuen Typs, müsste man das Grundgesetz verändern. Das wäre etwa der Fall, wenn man auch Frauen einbeziehen wollte. Notwendig dafür wäre eine zwei Drittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat, doch die scheint derzeit nicht erreichbar. Selbst in den Reihen der regierenden SPD gibt es Gegner einer Wehrpflicht. Zudem wäre man auch auf Stimmen von Grünen und Linken angewiesen. In beiden Parteien ist die Ablehnung der Wehrpflicht noch deutlich ausgeprägter. Mit der AfD – die eine Wehrpflicht befürwortet – dürften die anderen Parteien nicht zusammenarbeiten wollen.