Das Problem mit der Erde

ExklusivBeim Projekt Stuttgart 21 ist der Aushub in der Innenstadt demnächst beendet

Im Land wird gebaut. Die Entsorgung des Aushubs entwickelt sich jedoch zum Problem. Das gilt auch für Stuttgart 21. Doch dort soll alles Material aus der Innenstadt bald abtransportiert sein.

Stuttgart Zwei große Traktoren rollen über das Gelände. Auf ihren Anhängern transportieren sie Erde. Sie fahren an eine oben offene Box heran. Die Erdmasse wird ausgekippt – und bildet einen von vielen Haufen unterschiedlichen Materials, das hier in 18 solcher Behältnisse lagert. Das ­Gelände ist kein Bauernhof irgendwo weit draußen in der Diaspora, sondern liegt mitten in der Landeshauptstadt. Es handelt sich um die Zentrale Baulogistik des Großprojekts Stuttgart 21. Hier am Nordbahnhof landet sämtlicher Aushub der Baustellen im Talkessel.

Projektleiter Wolf-Dieter Tigges und seine Mannschaft haben es mit enormen Mengen zu tun. 8,3 Millionen Tonnen Erde und Steine aus Tunneln und Baugruben werden sie von hier aus am Ende abtransportiert haben. Das entspricht grob dem Erdaushub von 17 000 Einfamilienhäusern. Oder dem Gewicht von 830 Eiffeltürmen.

7,1 Millionen Tonnen sind bereits weg. Und zwar zum allergrößten Teil per Güterzug. „Es hieß ursprünglich einmal, der überwiegende Anteil solle per Bahn abtransportiert werden. Was genau das bedeuten soll, war nicht so richtig klar“, sagt Tigges. Der Mann aus Koblenz, der seit sieben Jahren für die Zentrale Baulogistik verantwortlich ist, freut sich über die erreichte Quote: 98 Prozent. „Derzeit fahren fünf Güterzüge pro Tag ab. In Spitzenzeiten waren es 13“, erzählt er. Das Material wird per Lkw oder Traktor über Baulogistikstraßen angefahren und zwischengelagert. Ein Teil geht in der Innenstadt auch direkt über Förderbänder in gelbe Container, die dann auf die Waggons geladen werden. Zum Prozess gehören auch mehrere Beprobungen und eine Be- und Entwässerungsanlage mit diversen Filterbecken. Feinstaub zum Beispiel setzt sich ab und wird gesondert abgefahren.

Die Züge, die gerade auf den Gleisen stehen, steuern eine ehemalige Kiesgrube bei München an. Sie wird verfüllt. Doch die Unmengen von Material, der größte Teil davon unbelastete Erde, lässt sich gar nicht so leicht an den Mann bringen. 920 000 Tonnen konnte die Bahn bisher ohne Entsorgungskosten einer Verwertung zuführen – zum Beispiel auf dem Gelände der Landesgartenschau in Lahr. Der Rest ging kostenpflichtig an ehemalige Steinbrüche und Tagebauanlagen in Baden-Württemberg, Thüringen und Sachsen-Anhalt. Pro Tonne kostet das zwischen 8 und 30 Euro. Letzten Endes wird die Bahn allein für die Entsorgung einen dreistelligen Millionenbetrag bezahlen.

Das auf den ersten Blick Absurde daran: Später müssen zur Verfüllung besonders des neuen Hauptbahnhofs wieder 140 000 Tonnen anderes Material in den Talkessel gefahren werden. Die Verwendung des Aushubs ist größtenteils wegen strenger Auflagen im Land nicht erlaubt. Es gäbe dabei aber auch noch ein anderes Problem: „Wir würden Material ja gerne lagern, aber dafür bräuchte man gigantische Flächen. Die gibt es hier nicht, und das rechnet sich auch nicht“, weiß Projektleiter Tigges.

Die Frage, wohin man Bauschutt und Erdaushub eigentlich bringen soll, stellt sich bei Weitem nicht nur bei Großprojekten wie Stuttgart 21. Jeder einzelne Bauherr muss die Abfallprodukte seiner Baustelle fachgerecht entsorgen – das macht inzwischen auch den Wohnungsbau extrem teuer. Der Grund: Es besteht laut Fachleuten ein akuter Mangel an Ablagerungsmöglichkeiten wie Deponien oder Kiesgruben – ganz besonders in der Nähe von Baustellen. Das bestätigt man auch bei den Stuttgart-21-Logistikern. Nicht zuletzt durch die Mengen des Projekts selbst verschärft sich das Problem.

Nach Informationen des Verbands Bauwirtschaft Baden-Württemberg fallen im Südwesten jährlich enorme Mengen an Bauabfällen an – Tendenz stetig steigend. Bau- und Abbruchabfälle machen fast 80 Prozent des gesamten im Land entsorgten Abfalls aus. Bei einem Großteil der Bauabfälle handelt es sich um unbelasteten Boden. Branchenvertreter erklären: „Auch Boden wird rechtlich betrachtet zu Abfall, sobald er in der Baggerschaufel liegt und abtransportiert wird.“ Nach Angaben des Statistischen Landesamtes belief sich die entsorgte Menge an unbelastetem Boden und Steinen im Land 2017 auf knapp 28 Millionen Tonnen.

Doch anders als Hausmüll oder Papier legen die Laster mit Erdaushub und Steinen enorme Strecken zurück, bis sie ihre Ladung loswerden können. „Zurzeit werden ganze Lkw-Ladungen mit Bauabfällen Hunderte Kilometer bis nach Bayern und Rheinland-Pfalz gekarrt, weil es in Baden-Württemberg schlichtweg an Deponiekapazitäten fehlt“, kritisiert Thomas Möller, Haupt­geschäftsführer der Bauwirtschaft Baden-Württemberg. Und: „Das führt zu verstopften Straßen, schadet der Umwelt und verteuert das Bauen. Dieser Abfalltourismus quer durch unser Land muss endlich gestoppt werden.“

Schuld ist in den Augen der Unternehmer die Politik. „Es kann nicht sein, dass unsere Bauunternehmen nicht mehr wissen, wohin mit ihrem unbelasteten Erdaushub“, so ­Möller. „Das Land ist nicht in der Lage, rechtzeitig genügend Deponieraum zu schaffen. Unser Hauptjob ist es schließlich zu bauen, nicht zu fahren.“

Das bekomme auch der normale Häuslebauer zu spüren: „Als Folge der Deponieknappheit sind die Preise für die Deponierung in den letzten fünf Jahren sprunghaft nach oben geschnellt“, erklärt Möller. Die Rede ist teilweise von einer Verdreifachung der Kosten: „Je nach Region werden bei einem Einfamilienhaus für die Entsorgung von Erdaushub inzwischen bis zu 30 000 Euro fällig.“

Im Landesumweltministerium widerspricht man diesen Vorwürfen entschieden. „Sie kommen immer wieder, aber sie treffen nicht zu“, sagt Sprecher Ralf Heineken. Zuständig seien die einzelnen Kreise. Sie müssen eine zehnjährige Entsorgungssicherheit nachweisen. „Es gibt etwa 300 Deponien im Land. Wir haben keinen Engpass“, so Heineken. Richtig sei, dass im Regierungsbezirk Freiburg in den nächsten Jahren kleinere Engpässe absehbar seien. „Darum müssen wir uns kümmern, das ist klar“, so der Ministeriumssprecher. Dazu komme, dass es gerade im Großraum Stuttgart zwar Deponien gebe, diese aber sehr teuer seien. Deshalb entscheide sich so manches Unternehmen aus Kostengründen dafür, lieber weitere Strecken in Kauf zu nehmen.

Im Ministerium wundert man sich darüber, dass das Thema Erdmassenausgleich bislang von den Bauunternehmen sehr stiefmütterlich behandelt werde. „Man könnte bei vielen Projekten den Erdaushub einfach da lassen und ihn dazu verwenden, das Gelände drum herum zu erhöhen. Dann müsste man auch weniger tief ausgraben“, sagt Heineken. Man frage sich schon, warum das eigentlich so selten passiere.

Auf dem Stuttgart-21-Gelände am Nordbahnhof läuft der Betrieb derweil weiter. ­Allerdings nicht mehr lange. „Wir gehen davon aus, dass die Zentrale Baulogistik Ende September ihre Arbeit einstellen wird“, sagt Projektleiter Tigges. Dann werden rund 8,3 Millionen Tonnen Aushub aus dem Talkessel abtransportiert sein. Danach fallen nur noch Restmengen an, für die sich der Betrieb nicht mehr lohnt.

Tigges und seine Leute sind jetzt schon stolz auf ihre Arbeit: „Wir haben hier riesige Mengen direkt aus der Innenstadt abgefahren, und kaum jemand hat etwas davon mitbekommen“, sagt Tigges. Und letztendlich hat sich immer ein Abnehmer gefunden – so kompliziert die Lage auch ist.

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Erstellt:
3. April 2019, 14:18 Uhr

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