Der Schacht ist zu schmal für die Retter
Experte kritisiert langsame Bergungsarbeiten bei Malaga – Ein Ende ist noch nicht absehbar
Spanien - Seit neun Tagen versuchen 300 Helfer, den zweijährigen Julen aus einem Bohrloch zu bergen. Doch es geht einfach nicht voran. Die Hoffnung schwindet mit jeder Minute.
Totalán Die vorerst letzte schlechte Nachricht kommt gegen 12 Uhr mittags am Dienstag: Der gerade fertiggestellte Rettungsschacht ist zu schmal. Die Metallrohre mit einem Durchmesser von etwas mehr als 1,05 Meter, die den Schacht auskleiden sollen, stoßen in 40 Meter Tiefe auf ein Hindernis. Der Schacht muss weiter aufgebohrt werden. Wertvolle Stunden vergehen, in denen die Bergleute in der Tiefe schon einen Stollen vom Rettungsschacht hinüber zum Bohrloch in Angriff nehmen wollten. Seit einer Woche warten die Männer auf ihren Einsatz. Sie wollen Julen finden, der am Sonntag vor zehn Tagen mutmaßlich in jenes Bohrloch stürzte.
Die Suche nach Julen gleicht jenen Albträumen, in denen man rennt und rennt und nicht vom Fleck kommt. 300 Menschen sind im Einsatz, sie arbeiten ohne Pause, aber jeden Tag tauchen neue Hindernisse auf. „Wir sind hier und hoffen darauf, über ein Wunder berichten zu können“, sagt der Fotograf Jon Nazca, einer von Dutzenden Reportern vor Ort, zur Lokalzeitung „Málaga hoy“. Das Wunder wäre: Julen lebend zu finden.
Am Sonntag, 13. Januar, gegen 14 Uhr erreichte die Polizei ein Notruf: Ein zweieinhalbjähriger Junge sei auf einem Wiesengrundstück in der Gemeinde Totalán bei Málaga in ein mehr als 100 Meter tiefes Bohrloch gefallen. Das Loch ist so schmal, weniger als 25 Zentimeter Durchmesser, dass kein Erwachsener hineinpasst. Eine Kamera stößt in gut 70 Meter Tiefe auf einen Verschluss aus Sand und Steinen: Darunter müsste Julen verborgen sein, vielleicht am Leben, wenn da unten Wasser und Sauerstoff wären. Wenn man von oben das Bohrloch erweitern würde, könnte man ihn nicht retten, weil dann alles Erdreich auf ihn herabstürzen würde.
Also müssen die Bergungskräfte von der Seite an ihn herankommen: über einen Schacht parallel zum Bohrloch oder, was in dem bergigen Gelände grundsätzlich möglich wäre, über einen seitlichen Stollen. Doch der Bau des Stollens scheitert. Bleibt die Bohrung eines Rettungsschachtes, wofür zuvor das Gelände planiert werden muss. Am Samstag um 13.30 Uhr, sechs Tage nach der Unglücksmeldung, beginnt die Bohrung. Am Montagabend, nach 55 Stunden, ist sie vollbracht – aber nicht perfekt. Am Dienstag muss nachgebohrt werden. Es ist zum Verzweifeln. Am frühen Nachmittag drückt Innenminister Fernando Grande-Marlaska allen Helfern seinen Dank aus und lobt ihren Einsatz. Niemand will schlecht über die Rettungsaktion reden, fast niemand. Nur ein Architekt aus Marbella, Jesús María Flores, der die Arbeiten genau verfolgt, wagt den Tabubruch: „Man kann diesen Unsinn nicht mehr rechtfertigen“, twittert er am frühen Dienstagmorgen. Seit Tagen kritisiert er den Rettungsplan, vor allem den seiner Ansicht nach völlig verspäteten Beginn der Rettungsschachtbohrung.
Niemand will in diesen Tagen seine Kritik hören, die Architektenkammer hat sich von ihm distanziert, aber für einen Laien ist es schwer, seine Einwände beiseite zu wischen. Denn: Wieso dauert das alles so lange? Flores hält dem Leiter der Rettungsaktion, einem Bauingenieur, vor, Entscheidungen zu treffen wie auf einer gewöhnlichen Baustelle, als handelte es sich nicht um einen Noteinsatz, bei dem die Uhr erbarmungslos tickt.
Am Dienstagnachmittag will niemand vorhersagen, wie lange es dauern wird, bis die Bergleute den Rettungsschacht hinabfahren können, um mit dem Stollenbau hinüber zum Bohrloch zu beginnen. Und dann: Werden sie Julen finden? Ist er wirklich in das Loch gestürzt? Die Madrider Zeitung „El Mundo“ hat am Wochenende ein Foto von Julen veröffentlicht, das ihn im Dreck spielend zeigt, mit einer Chipstüte in der Hand. Das Foto soll acht Minuten vor dem Notruf geschossen worden sein, gleich neben dem Bohrloch, an dessen Existenz an jenem Sonntag niemand dachte. Das Bild ist ein Indiz dafür, dass die Geschichte der Eltern stimmt, so schwer vorstellbar es ist, dass der Junge dieses schmale Loch hinabgerutscht sein soll. Erst wenn die Bergleute einen Blick in die Tiefe des Bohrlochs unterhalb des Verschlusses geworfen haben, wird es Gewissheit geben.