Der Traum vom barrierefreien Internet

Wenn das Augenlicht schwindet, das Gehör nachlässt oder die motorischen Fähigkeiten eingeschränkt sind, kann das Internet eine riesige Herausforderung sein. Betroffene aus der Region erzählen von ihrem unermüdlichen Kampf für mehr digitale Barrierefreiheit.

Gerd Widmann ist blind, aber mit Hilfe eines Screenreaders, einer Braillezeile und der Tastatur kann auch er am digitalen Leben teilnehmen und im Internet surfen – wenn es denn barrierefrei ist. Foto: Tobias Sellmaier

© Tobias Sellmaier

Gerd Widmann ist blind, aber mit Hilfe eines Screenreaders, einer Braillezeile und der Tastatur kann auch er am digitalen Leben teilnehmen und im Internet surfen – wenn es denn barrierefrei ist. Foto: Tobias Sellmaier

Von Anja La Roche

Rems-Murr. Gerd Widmann bewegt sich zielsicher durch seine Wohnung in Winnenden, bis er gegen seinen Bürostuhl stößt. Auf diesen setzt sich der erblindete Mann und schaltet seinen Laptop an. Obwohl der 62-Jährige schon seit 1996 mit dem Computer arbeitet, kann er nicht problemlos im Internet unterwegs sein. „Es gibt große Probleme bei der digitalen Barrierefreiheit. Und es ist sehr schwierig den Webdesignern das Problem verständlich zu machen“, sagt der Leiter der Bezirksgruppe Rems-Murr des Blinden- und Sehbehindertenverbands Württemberg (BSVW).

Eine Computerstimme liest ihm vor, welche Menüpunkte und Textfelder gerade auf seinem Bildschirm angezeigt werden – ein sogenannter Screenreader (zu deutsch: Bildschirmleser). Mit seiner rechten Hand navigiert Widmann per Pfeiltasten über die Webseite. Mit der linken Hand liest er parallel dazu in Blindenschrift mit. Dafür nutzt er eine Braillezeile, ein Gerät für Computer, das Zeichen in Brailleschrift (Blindenschrift) darstellt.

Wie das aussieht und klingt, wenn Widmann im Internet surft, zeigt das folgende Video:

An vielen Webseiten scheitert der Mann, der aufgrund eines Gendefekts nicht mehr sehen kann. Die Probleme sind unterschiedlicher Natur: Manchmal wird die Tastaturbedienung nicht unterstützt, manchmal sind die Menüpunkte nicht klar benannt. Ob Widmann problemlos einen Artikel unserer Zeitung lesen kann? Er gibt unsere Webadresse ein und da ploppt ein Feld auf: Widmann soll die Cookies akzeptieren. 20 Minuten kostet es ihn, das Akzeptieren-Feld zu finden.

Denn immer wieder landet er auf der Ebene hinter dem Cookie-Fenster. „Die Cookies und die Artikel sind nicht trennscharf programmiert“, erklärt Widmann. Als er es endlich geschafft hat, kann er einen Artikel auswählen. Die Computerstimme liest ihn laut vor. Zeitgleich fahren Widmanns Finger beeindruckend schnell über die Braillezeile.

Je nach Behinderung müssen andere Anforderungen erfüllt werden

Gerd Widmann repräsentiert nur eine Gruppe von vielen Menschen, denen es schwer gemacht wird, sich online zurechtzufinden. Jürgen Sommer beispielsweise ist sehbehindert. Der 60-Jährige benötigt keine Braillezeile, sondern kann mit einer Bildschirmvergrößerung arbeiten, eine digitale Lupe, die auch vorlesen kann. Für gehörlose Menschen wiederum sind Videos mit Gebärdensprache hilfreich sowie Untertitel bei Videos mit gesprochener Sprache.

Ein wichtiger Baustein einer barrierefreien Webseite ist außerdem, Informationen in leichter Sprache zugänglich zu machen. So können sich auch anderssprachige Menschen oder Personen mit geistiger Behinderung die Informationen im Netz holen, die sie benötigen.

Die Digitalisierung ist überall Thema und durchzieht alle gesellschaftlichen Bereiche. Für behinderte Menschen kann das enorme Vorteile haben – etwa wenn eine blinde Person auf ihrem Handy nachschauen kann, auf welchem Gleis der Zug abfährt. Aber es birgt auch Risiken. „Wenn wir da nicht aufpassen, hängen wir ganze Gruppen ab“, sagt Jürgen Sommer, der sich für den BSVW für digitale Barrierefreiheit einsetzt.

Dabei gilt es vor allem diejenigen aufzuklären, die für das Programmieren der Software verantwortlich sind. Darüber spricht Gottfried Zimmermann von der Hochschule der Medien in Stuttgart in einem Interview.

In der Coronazeit haben sich einige Mängel bemerkbar gemacht

Seit Corona hat sich die Digitalisierung rasant entwickelt – die Barrierefreiheit ist auf der Strecke geblieben, zum Beispiel bei den Terminbuchungsportalen der Test- und Impfzentren. „Das hat mit selbstbestimmtem Leben nichts zu tun“, kritisiert Widmann die Verantwortlichen.

Für ihn heißt selbstbestimmt leben auch, sich selbstständig informieren zu können. Das sehen auch die Gesetzgeber so. Das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) etwa schreibt in Deutschland vor, dass die öffentlichen Stellen des Bundes ihre Webseiten und mobilen Anwendungen – auch die internen Anwendungen für die Beschäftigten – barrierefrei gestalten müssen. Das entsprechende Landesgesetz (LBGG) formuliert den gleichen Anspruch.

Als Ausnahme gilt, wenn die Behörden durch die erforderliche Anpassung unverhältnismäßig belastet würden. Die Webseitenbetreiber sind des Weiteren dazu verpflichtet, eine Erklärung zur Barrierefreiheit auf der entsprechenden Seite anzuführen.

Auf EU-Ebene ist die mediale Barrierefreiheit im European Accessibility Act (zu deutsch: Europäischer Rechtsakt zur Barrierefreiheit) geregelt. Der schreibt auch vor, dass bis Juli 2025 auch Unternehmen aus dem Privatsektor ihre digitalen Auftritte für alle Menschen zugänglich machen müssen.

Jürgen Sommer testet Webseiten auf ihre Zugänglichkeit

Ob das klappt? Jürgen Sommer ist da eher pessimistisch. Vermutlich ist das seiner bisherigen Arbeit geschuldet, die er als Kampf gegen Windmühlen bezeichnet. Mit seinem Team vom BSVW testet er zirka 100 Webseiten pro Jahr. Jedes einzelne Feld wird überprüft, ob es die Anforderungen erfüllt. Die Mängel meldet Sommer dann den Verantwortlichen. „Ich ärger mich immer wieder über die gleichen Dinge“, sagt er. „Dann gestalten die ihre Webseite neu und ich kann von vorne anfangen.“

Auch Gerd Widmann hat schon für viele Betreiber die Internetseite auf ihre Blindentauglichkeit getestet. Die Kommunen würden erst auf die Probleme aufmerksam, wenn man sie darauf hinweist, sagt er. Auch das Landratsamt Rems-Murr hat bereits mit ihm zusammen gearbeitet, um sich zu verbessern. Es geht beispielsweise auf Widmanns Initiative zurück, dass die Bilder auf der Seite des Landratsamts vernünftige Bildbeschreibungen haben.

Bei den öffentlichen Stellen gibt es Fortschritte

Im öffentlichen Sektor zumindest hat sich viel getan in den letzten Jahren. Auch dank entsprechender Vorschriften. In Baden-Württemberg kontrolliert das die Überwachungsstelle für mediale Barrierefreiheit, die bei der Deutschen Rentenversicherung angesiedelt ist.

Diese hat auch die Webseite der Stadt Backnang überprüft. Seit Ende des Jahres 2022 bietet die Internetseite der Stadt neben einigen technischen Anforderungen für die Ausgabegeräte von blinden oder sehbehinderten Nutzern und Nutzerinnen auch eine optimierte Menüführung und angepasste Kontraste. Die Stadtverwaltung hat zudem Inhalte in leichter Sprache und Gebärdensprachenvideos erstellen lassen. Insgesamt hat sie die Überarbeitung 7500 Euro gekostet.

Oberbürgermeister Maximilian Friedrich ist sich dabei bewusst, dass das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht ist. „Bei einem derart breit gestreuten Inhaltsangebot bleibt es nicht aus, dass auch wir etwas übersehen. Wir freuen uns deswegen über jede konstruktive Kritik“, sagt er. Es handele sich stets um einen fließenden Prozess.

Das Ziel ist, mehr Beachtung für die Probleme behinderter Personen

Bei kleineren Kommunen stellt sich indes die Frage der Verhältnismäßigkeit von Aufwand und Nutzen: Lohnt es sich für eine kleine Gemeinde, Informationen in Gebärdenfilmchen darzustellen?

Gerd Widmann und Jürgen Sommer jedenfalls führen ihren Kampf gegen die Windmühlen fort – auch wenn es noch so frustrierend sein mag. Und jedes Update einer App, das alles bislang Erreichte über den Haufen wirft, ist für sie wohl ein Grund mehr, für mehr Beachtung in der Gesellschaft zu kämpfen.

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Erstellt:
24. Februar 2023, 06:00 Uhr

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