Experte über barrierefreies Internet: „Wir in Deutschland hinken sehr hintendrein“

Interview Gottfried Zimmermann von der Hochschule der Medien geht davon aus, dass digitale Barrierefreiheit zukünftig Standard sein wird.

Die Kommunen müssen ihre Webseite möglichst barrierefrei gestalten.

© Alexander Becher

Die Kommunen müssen ihre Webseite möglichst barrierefrei gestalten.

Eine fachliche Sicht auf das Thema digitale Barrierefreiheit bietet Gottfried Zimmermann. Er leitet das Kompetenzzentrum für digitale Barrierefreiheit an der Hochschule der Medien in Stuttgart. Dort forscht er zu dem Thema und berät andere Institutionen.

Herr Zimmermann, wie kann sich der Austausch zwischen den Betreibern und Erstellern von Webseiten und den Betroffenen verbessern?

Austausch ist natürlich wichtig, weil wir mehr Bewusstsein brauchen. Aber wenn es wirklich um digitale Barrierefreiheit geht, brauchen wir die technische Expertise all derer, die Medien kreieren. Wir haben das große Problem, dass sowohl die Absolventen von Hochschulen als auch diejenigen, die zum Beispiel eine Programmierausbildung machen, in der Regel von digitaler Barrierefreiheit wenig wissen, weil das in unseren Ausbildungsstätten viel zu wenig gelehrt wird. Ich bin gerade dran, eine Ausbildungsinitiative in die Wege zu leiten, zusammen mit dem Berufsverband für Barrierefreiheitsexperten (IAAP-DACH). Wir wollen, dass das Thema mehr gelehrt wird und es Zertifikate gibt.

Welche Bedeutung wird das Thema zukünftig haben?

Wenn wir digitale Medien erzeugen – also Webseiten, mobile Apps, Videos, die ganzen Plattformen wie Social Media und im Prinzip auch sehr viele Dokumente – wird es ganz normal sein, dass wir sie barrierefrei gestalten. Andere Länder sind uns da voraus. In Finnland und in den USA ist man zum Beispiel viel weiter. Wir in Deutschland hinken sehr hintendrein – obwohl die öffentlichen Stellen dazu verpflichtet sind, alles barrierefrei zu gestalten.

Sie sind demnach optimistisch, dass die Barrierefreiheit mehr beachtet wird?

Die digitale Barrierefreiheit ist auf jeden Fall ein großes Zukunftsthema und wer sich das nicht erarbeitet, hat irgendwann Nachteile im Berufsleben. Wer diese Qualifikation nicht hat, wird in der Zukunft vielleicht auch Probleme haben, überhaupt eine Stelle zu finden. Letztendlich sehe ich das als ein Problem, das sich mit den nächsten Generationen hoffentlich lösen wird. Weil später die jungen Leute an den Ausbildungsstätten lehren und dem Thema Zeit und Raum einräumen werden.

Haben Sie eine Vermutung, warum wir in Deutschland noch nicht so weit sind?

Also in USA ist es ganz klar, da muss man zahlen. Da gibt es viele Gerichtsurteile, die solche Anbieter, die nicht barrierefreie Angebote gemacht haben, zu Strafzahlungen verurteilt haben. Das wirkt. Auch Universitäten mussten schon Strafe zahlen, beziehungsweise außergerichtliche Einigungen erzielen. Was ich außerdem beobachte ist, dass wir Deutschen immer sehr auf den Datenschutz achten. Ich bin nicht gegen Datenschutz, aber es geht um eine sinnvolle Balance. Wenn der Datenschutz nicht gewährleistet ist, ist das ein K.-o.-Kriterium, auch wenn es sich nur um ein kleines Problem handelt. Bei der Barrierefreiheit macht man hingegen viele Kompromisse, auch sehr schlechte.

Haben Sie ein Beispiel, wo dem Datenschutz mehr gerecht wird?

Für alle öffentlichen Stellen in Baden-Württemberg ist das Programm Microsoft Office 365 verboten. Dabei hätte das sehr gute Aspekte zu bieten in Bezug auf die Barrierefreiheit. Andere europäische Länder erlauben Office 365 zum Teil.

Oft verlieren Apps oder Webseiten nach einem Update ein zuvor errungenes Stück Barrierefreiheit. Woran liegt das?

Das Problem ist, dass die Programmierer die Barrierefreiheit nicht von vornherein einplanen. Sie setzen sie, wenn überhaupt, am Schluss obendrauf. Und wenn dann ein Update gemacht wird, wird vergessen, den zusätzliche „Baustein“ noch mal oben draufzusetzen – weil das umständlich ist und oftmals gar nicht geht. Nur wenn die Webseite vom Grunde auf barrierefrei entwickelt wird, klappt es auch mit langfristiger Barrierefreiheit.

Was können Mitarbeiter von Behörden beachten, die digital mit behinderten Menschen kommunizieren?

Es geht darum, ein gewisses Einfühlungsvermögen und Bewusstsein dafür zu haben, dass diese Menschen sich in besonderen Situationen befinden und andere Technologien nutzen, die man vielleicht bisher nicht kannte. Noch besser wäre es, diese Technologien kennenzulernen. Das sollte zur Schulung des Personals dazu gehören.

Das Gespräch führte Anja La Roche

Zum Artikel

Erstellt:
24. Februar 2023, 06:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Lesen Sie jetzt!

Stadt & Kreis

Ärzte sehen Schließung der Notfallpraxis Backnang als Akt der Vernunft

Im Raum Backnang bedauern viele Ärzte die angekündigte Schließung der Notfallpraxis, betrachten sie aber zugleich als notwendigen Schritt, um den Mangel an Hausärzten nicht weiter zu verschärfen. Die Inanspruchnahme der Notfallpraxis sei zudem oftmals nicht angemessen.

Stadt & Kreis

Backnang-Kärtle für alle Mitarbeiter der Stadt

Die Stadt Backnang setzt bei der Mitarbeitergewinnung auf weiche Arbeitgeberfaktoren. Der Zuschuss für jeden Beschäftigten beträgt 25 Euro pro Monat und kostet die Stadt pro Jahr 270000 Euro. Der Verwaltungs- und Finanzausschuss empfiehlt dem Gemeinderat die Zustimmung.

Stadt & Kreis

Gemarkungslauf: Austausch in den Teilorten Backnangs

Bei seinem Gemarkungslauf besucht Oberbürgermeister Maximilian Friedrich dieses Mal die Schöntale und Sachsenweiler. Die Anliegen der Bürgerschaft sind vielfältig, nicht alles kann sofort umgesetzt werden.