„Deutschland findet digital nicht statt“

Der ehemalige EU-Kommissar Günther Oettinger spricht als Gast des CDU-Ortsverbands Auenwald/Althütte in der Auenwaldhalle

Nach seiner Rede diskutiert Günther Oettinger mit dem Publikum. Foto: G. Habermann

© Gabriel Habermann

Nach seiner Rede diskutiert Günther Oettinger mit dem Publikum. Foto: G. Habermann

Von Wolfgang Gleich

AUENWALD. „Pillepalle“ seien die Themen wie Grundrente, 1. Mütterrente, 2. Mütterrente oder Rente mit 63, die im deutschen Parlament und in den Medien diskutiert werden. Denn, „die Welt wird derzeit neu vermessen, und Deutschland hat es noch nicht einmal bemerkt!“ Und dabei sehe es sich Wettbewerbern gegenüber, die über mehr und bessere Ingenieure als Deutschland verfügten und sich stärker für Technik, Infrastruktur und Industrie begeisterten, als dies hierzulande geschehe. So der ehemalige baden-württembergische Ministerpräsident und EU-Kommissar für Haushalt und Personal, digitale Gesellschaft und Wirtschaft sowie für Energie, Günther H. Oettinger.

Auf Einladung des CDU-Ortsverbands Auenwald/Althütte hielt Oettinger einen Vortrag, der unter dem Motto „Wohin steuert die EU – Günther Oettinger plaudert aus dem Nähkästchen“ stand. Im voll besetzten Bürgersaal der Auenwaldhalle legte Oettinger seine Weltsicht in der ihm eigenen stringenten, bodenständig knitzen, bisweilen provokativen Art und Weise dar. Die Welt stehe mitten in einem Kampf der Systeme, in dem sich die Autokraten Erdogan und Putin, die Vereinigten Staaten des „America First“ und China gegenüber stünden. Mitten drin wie in einem Sandwich drohten Auenwald, der Rems-Murr-Kreis, Baden-Württemberg, Deutschland und Europa in diesem Kampf zerrieben zu werden.

Die Stadt Backnang, erklärte Oettinger, sei einst das „Weltzentrum der Kommunikationstechnik“ gewesen. Heute sei die weltweite digitale Revolution mit den Namen Huawei, Cisco, Ericsson und Nokia verbunden, „Deutschland findet digital nicht statt“ und habe dies in seiner Trägheit und Sattheit noch nicht einmal bemerkt, so Oettingers Warnung.

Und während vergleichbare Volkswirtschaften wie die Koreas, Norwegens, der Schweiz, Kanadas und der USA mit zwei bis drei Prozent Wachstum rechneten, stelle man sich in Deutschland auf 0,6 Prozent ein, und die verdanke man dem 29. Februar als zusätzlichen Tag. Etwas laufe schief hierzulande; Deutschland sei dabei, den Vorsprung an Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität wieder zu verlieren, den es durch die Agenda 2010 gewonnen habe.

Generationenvertrag und längere Lebensarbeitszeit

Als „ältestes Volk der Welt“ müssten sich die Deutschen darauf einstellen, nicht mit 63, sondern mit 70 in Rente zu gehen. Im Augenblick würden zwei Arbeitnehmer einen Rentner erhalten, aufgrund der demografischen Entwicklung „kann aber bald jeder einen Alten mit dem Rucksack durchs Land tragen“. Der sogenannte Generationenvertrag werde nicht förmlich unterschrieben, er funktioniere nur, wenn die jungen Menschen im Land bleiben und nicht auswandern, weil ihnen zu viele Lasten aufgebürdet werden. Und auch die Schuldigen an der Misere in der deutschen Automobilkrise will Oettinger erkannt haben. Die Debatte um batteriebetriebene Autos sei eine Strömung des Zeitgeistes, die von den Medien und „der Blase in Berlin Mitte, die keine Autos braucht“ aufgegriffen worden sei. Eingebrockt worden sei sie „von den Chinesen“, die erkannten, dass sie niemals so gute Verbrennungsmotoren wie in Deutschland hinbekommen. Autos mit Elektroantrieb könnten sie dagegen bauen. Dadurch, dass sie in ihren Städten nur noch diese Autos erlaubten, würden sie diese smogfrei bekommen. Die für deren Betrieb notwendige Energie erzeugten sie in Kohle- und Atomkraftwerken, die sie an der Westgrenze ihres Landes neu errichteten. Die Folge davon sei: „Der Smog ist weg, ihre Emissionen verteilen sie nach Westen über die ganze Welt.“

Die Europäische Union, so Oettingers Fazit, bestehe aus zwei Gruppen von Staaten, nämlich aus Ländern, die klein sind, und Ländern, die wüssten, dass sie klein sind. Nur gemeinsam innerhalb einer starken EU könnte sich Europa gegenüber China und den USA behaupten, seine wirtschaftlichen und politischen Interessen in seiner unmittelbaren Nachbarschaft südlich des Mittelmeers, südlich der Sahara, im Nahen und Mittleren Osten sowie im Schwarzmeergebiet durchsetzen. Mittel dazu seien eine europäische Forschungsgemeinschaft, der Ausbau von Europol zu einem „europäischen FBI“ und auch einer europäischen Armee. Den Zustand der Europäischen Union bewertet Oettinger als „ordentlich“. Nach dem Tiefpunkt 2012 gehe es Irland, Portugal, Spanien und Zypern gut oder nicht schlecht, während sich die neuen Mitglieder im Osten als die dynamisch treibenden Kräfte erwiesen. So betrage das Bruttosozialprodukt pro Kopf in Ungarn mittlerweile 70 Prozent des EU-Durchschnitts, das von Polen 80 Prozent, im Großraum Warschau erreiche es sogar 105 Prozent. Oettinger stellte sich obendrein Fragen aus dem Publikum. Themen dabei waren etwa Personalien in CDU und SPD sowie Stuttgart 21.

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Erstellt:
2. März 2020, 11:30 Uhr

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