Die moderne Arbeitswelthat ihren Preis

Mitarbeiter können immer flexiblere Auszeiten nehmen – doch wer füllt dann die Lücken?

Manchmal sind die einfachsten Ideen die genialsten. Jahrzehntelang konzentrierte sich die Gewerkschaft IG Metall darauf, für ihre Mitglieder einen satten Tarifabschluss nach dem anderen herauszuholen. Weil gerade bei der Autoherstellung die Lieferströme extrem vernetzt und entsprechend störanfällig sind, hat die Gewerkschaft eine enorme Streikmacht. Die jahrelange, durch Niedrigzins und Eurorettung künstlich angeheizte Konjunktur tut ein Übriges, um die Lohnabschlüsse hochzuhalten. Deshalb können die Chefverhandler der Gewerkschaft ihren Mitgliedern fast jedes Mal satte Entgelterhöhungen vor die Füße legen.

Doch die Zufriedenheit der Beschäftigten kann nicht immer mit dem Einkommen mithalten. Je höher der Wohlstand, desto eher rücken auch andere Bedürfnisse in den Vordergrund. Das Grummeln an der Basis brachte die IG Metall auf die Idee, den Spieß einmal umzudrehen. Fast 700 000 Beschäftigte gaben Auskunft darüber, was ihnen wichtig ist – und siehe da, eines der Topthemen ist die Zeitsouveränität. Der Bedarf der Menschen, sich nicht nur nach den Erfordernissen des Betriebs zu richten, sondern umgekehrt auch dem Betrieb Flexibilität abverlangen zu können, ist groß. In Zeiten, in denen immer mehr Menschen pflegebedürftige Angehörige versorgen müssen, in denen die Belegschaften älter werden, in denen der Wunsch nach Zeit für Familie und außerberufliche Interessen wächst, können Firmen nicht einfach beiseiteschauen.

Die IG Metall setzte vor knapp einem Jahr weitreichende Ansprüche durch – etwa zusätzliche, teilweise bezahlte freie Tage für Menschen in Dauerschichtarbeit, mit kleineren Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen. Die Arbeitswelt wird mitarbeiterfreundlich – doch es bleibt immer noch eine Arbeitswelt. Die Mitarbeiter sollen sich zwar wohlfühlen – doch das darf nicht bedeuten, dass nun plötzlich Aufträge liegenbleiben oder die Unternehmensleitung sich mehr mit der Koordinierung der Pausenwünsche als mit der Führung der Firma beschäftigen muss. Wenn die Arbeitgeber, die das Ergebnis einst als „richtungweisend“ und „vernünftiges Paket“ bejubelt hatten, nun schwer ernüchtert sind, ist das mehr als nur ein Schönheitsfehler. Manche Betriebsräte hätten zwar die Arbeitszeitverkürzungen massiv eingefordert, weigerten sich aber, an Lösungen mitzuwirken, den Arbeitsausfall ausgleichen.

Für einen Arbeitnehmervertreter ist es natürlich angenehmer, einigen seiner Schäfchen einen sehnlichen Wunsch zu erfüllen als sich mit der weniger erbaulichen Frage zu beschäftigen, wie sich die dadurch aufgerissene Personaldecke wieder schließen lässt. Manche von ihnen werden nun damit konfrontiert, dass die zusätzliche Freiheit der einen die Freiheit der anderen einschränkt. Wer kleine Kinder hat, darf eine Auszeit nehmen? Man kann erahnen, wer dann in die Bresche springen muss – vor allem in kleineren Betrieben. Nicht jeder ist darüber begeistert.

Durch die neuen Regelungen wächst den Betriebsräten eine größere Verantwortung dafür zu, die Interessen unterschiedlicher Beschäftigter in eine Balance zu bringen. Das kann auch Konflikte mit sich bringen, die bei gutem Willen aller Beteiligten beherrschbar sind. Eine Verweigerungshaltung, wie sie in einem Teil der Betriebe offenbar anzutreffen ist, wird sich dagegen kaum durchhalten lassen. Arbeitgeber, die sich so verhalten, werden sich immer schwerer tun, gute Mitarbeiter zu finden; und Betriebsräte, die sich unter ihren Aufgaben die angenehmen herauspicken, werden ihrer Aufgabe nicht gerecht. Ein moderner Tarifvertrag ist nicht umsonst zu haben – auch nicht für die Mitarbeiter.

klaus.koester@stuttgarter-nachrichten.de

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Erstellt:
30. Januar 2019, 03:14 Uhr

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