Krieg in der Ukraine
Dramatische Lage an der Südfront
Um den strategisch wichtigen Eisenbahnknotenpunkt Pokrovsk tobt in der Ukraine eine erbitterte Schlacht. Russische Truppen versuchen nun den Norden der Stadt zu erobern.

© dpa/AP/Evgeniy Maloletka
Ein Mechaniker fertigt Bauteile für eine ukrainische Kampfdrohne irgendwo in einer Fabrik im Großraum Kyiv.
Von Franz Feyder
Der Kaffee war stark und heiß, die Croissants mit allem gefüllt, was die Obstgärten hergaben und kundige Hände zu köstlicher Marmelade eingekocht hatten. Die von Tannen umgebende Tankstelle THK an der Bundesstraße E 50 genoss auch einen kulinarischen Ruf. Über diese Straße konnten Autofahrer das ukrainische Pokrovsk umfahren, ohne ihr Leben zu riskieren – bis zum August 2024. Da rückten russische Truppen bis auf neun Kilometer an den strategisch wichtigen Eisenbahnknotenpunkt heran. Seitdem belagern sie die einst mehr als 60 000 Einwohner zählende Stadt.
Am 17. Juli 2025 gelang es offenbar russischen Aufklärern, einen Hinterhalt an der THK-Tankstelle zu legen. Sie nahmen aus dem Dickicht einen Pick-up mit ukrainischen Soldaten ins Kreuzfeuer: „Verdammte Scheiße, was ist … – ah, ich bin getroffen!“, schreit der Fahrer. „Los, brich durch! Brich durch, verdammt, schneller, schneller!“, brüllt neben ihm der Beifahrer, auf dessen Helm eine Videokamera das Gefecht aufzeichnet. Der Wagen schleudert, kommt zum Stehen. Die Soldaten springen heraus und von der Ladefläche, feuern zurück. Einer der Kameraden bleibt tot zurück. Überall in der von Zivilisten weitgehend verlassenen Stadt kommt es zu Feuergefechten. Die Lage um Pokrovsk ist dramatisch.
Warum ist die Stadt wichtig?
Pokrovsk ist von Westen nach Osten von vier Bahngleisen durchzogen, die sich am zerstörten Bahnhof in 16 weitere Bahnstrecken verzweigen. Diese führen nach Westen in die Industriemetropolen Dnipro und Saporischschja, im Osten in die russisch besetzten Städte Donezk und Luhansk. Zudem führt die E 50 direkt in ein Herz der ukrainischen Rüstungsindustrie in und um Dnipro. Wer Pokrovsk kontrolliert, kontrolliert damit auch eine strategische Kommunikationslinie, über die Nachschub und Truppen schnell verschoben werden können.
Wie gehen die Russen vor?
Die russischen Streitkräfte haben insgesamt 35 Brigaden und Regimenter motorisierter Infanterie, vier Panzerregimenter sowie zwölf Großverbände Artillerie mit etwa 672 Haubitzen und Geschützen in einem Radius von 20 Kilometern im Nordosten, Osten, Süden und Westen der Stadt zusammengezogen. Hinzu kommen zwei Regimenter für biologische und chemische Kriegsführung, drei Regimenter mit Drohnenpiloten sowie ein Verband mit speziell für Aufklärungsmissionen und Sabotage ausgebildeten und ausgerüsteten Soldaten. Insgesamt belagern etwa 100 000 Mann Pokrovsk. Ihnen stehen auf ukrainischer Seite etwa 30 000 Verteidiger entgegen, die sich auf zehn Großverbände sowie sieben Verbände für Drohnenkriegsführung aufteilen.
Wie hoch sind die Verluste?
Sie müssen auch auf russischer Seite enorm hoch sein. Durch einen russischen Whistleblower wurden Journalisten – auch unserer Zeitung – in der vergangenen Woche Verlustlisten der 41. russischen Armee für den Juni 2025 zugespielt. Diese Armee gilt mit einer Sollstärke von etwa 45 000 Soldaten als die am besten ausgestattete an der Südfront. Den Verzeichnissen nach wurden im Juni 8645 Soldaten dieser Armee getötet, 10 491 sind verletzt oder gelten als vermisst. Verletzt ist in der russischen Armee, wer so schwer verwundet wurde, dass er mehr als sieben Tage lang in Lazaretten oder Krankenhäusern behandelt werden muss. Im Juni wurden 7846 russische Soldaten dieser Armee als desertiert gemeldet. Das bedeutet, dass die 41. Armee in diesem Monat gut 60 Prozent ihrer Kampfkraft eingebüßt hat.
Beispielhaft dafür ist die 35. Motorisierte Schützenbrigade, die am 1. Mai über 5237 Soldaten verfügte. Dieser Verband meldete danach 3163 Soldaten als verwundet oder vermisst, 1975 Soldaten als getötet. 1238 Soldaten kamen als Ersatz. Die Brigade bestand Ende Juni noch aus 1337 Soldaten.
Welche Folgen hat das?
In Videos, die von russischen und ukrainischen Quellen veröffentlicht worden sind, ist zu sehen, dass russische Soldaten in Kleingruppen von drei bis vier Soldaten ukrainische Stellungen angreifen. Die kleinste Einsatztruppe der Infanterie ist eine Gruppe. Sie besteht auf russischer Seite in der Regel aus acht bis zehn Soldaten. Die Videos beider Seiten legen insofern die hohen russischen Verluste nahe. Für die ukrainischen Verteidiger ergibt sich – zumindest im Westen und Süden von Prokovsk – aufgrund dieser Entwicklung eine Entlastung. Auch wenn die ukrainischen Verluste nach Einschätzung von Gesprächspartnern unserer Zeitung bei etwa 100 toten und verletzten Soldaten am Tag liegen.
Wie sieht es im Umland aus?
Im Norden der umkämpften Stadt Pokrovsks wurde die 150. Motorisierte Gardeschützendivision neu in das Gefecht um diesen Ort eingeführt. Das ist ein Traditionsverband der russischen Streitkräfte, der am 2. Mai 1945 den Reichstag in Berlin erobert hatte. Soldaten dieser Division hissten die sowjetische Flagge auf dem Reichstagsgebäude. Der Verband wurde 1946 in Deutschland aufgelöst, Ende 2016 aber im Südwesten Russlands im Großraum Rostow neu aufgestellt. Soldaten dieser Division stießen in den vergangenen Tagen im Nordosten Pokrovsks auf das Dorf Rodynske vor. Fällt dieser Ort, dann würde eine der beiden Nachschubstraßen in die Stadt durchtrennt. Es bliebe nur noch die von Westen nach Pokrovsk führende E 50, um die Truppen zu versorgen und zu verstärken sowie Verwundete zu evakuieren. Die Bundesstraße jedoch liegt zumindest zeitweise im Feuer von zwei russischen Panzerregimentern.