„Ehemann – Vater – Auschwitz-Überlebender“

Am Morgen des 29. Mai 1946 wurde der Auschwitz-Überlebende Shmuel Danzyger in Stuttgart durch Polizeischüsse getötet. Nun erinnert der Shmuel-Dancyger-Platz an sein Schicksal.

Mehr als 100 Menschen begleiteten die Einweihung des Shmuel-Dancyger-Platzes im Stuttgarter Westen.

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Mehr als 100 Menschen begleiteten die Einweihung des Shmuel-Dancyger-Platzes im Stuttgarter Westen.

Von Nikolai B. Forstbauer

Stuttgart - Die Stimmung hat wenig von einem ehrfürchtigen Gedenken, als am Nachmittag des 17. September im Stuttgarter Westen ein eher unauffälliger Grünstreifen an der Ecke Reinsburgstraße/Rotenwaldstraße zur Bühne eines vielleicht einmal als wegweisend zu benennenden Ereignisses wird. Die Fläche bekommt den Namen des Mannes, der an dieser Stelle am 29. Mai 1946 bei einer Razzia durch Polizeischüsse getötet wurde: Shmuel Dancyger.

Mehr als 100 Menschen sind gekommen. Mittendrin: Howard Dancyger, Enkel von Shmuel Dancyger. Auch er spürt offensichtlich, dass es hier nicht um kleinmütiges Erinnern geht. Von der ersten Sekunde der Veranstaltung ist klar: Dieser Nachmittag ist ein Türöffner, ein verdrängtes Kapitel bundesdeutscher Nachkriegsgeschichte neu und in Teilen erstmals überhaupt in den Blick zu nehmen.

Fabian Mayer, Erster Bürgermeister der Stadt Stuttgart, wird in seinem bemerkenswert direkt formulierten Grußwort vom Unrecht an den Holocaust-Überlebenden sprechen – und deutlich machen: „Es ist nicht selbstverständlich, dass wir diese Einweihung heute vornehmen können.“ Und Mayer unterstreicht, dass die Aufarbeitung des Schicksals von Shmuel Dancyger mit dem Ausrufen eines Platznamens keineswegs zu Ende ist. Diese Position wird mit Reden von Baden-Württembergs Landtagspräsidentin Muhterem Aras und später auch Howard Dancyger noch deutlicher.

Um was geht es? Bäume und Sträucher schützen an der Ecke Reinsburgstraße/Rotenwaldstraße leidlich gegen den Straßenraum. Und doch organisierten die Stuttgarter Konzeptkünstlerinnen Ann-Kathrin Müller und Judith Engel hier im engen Dialog mit dem Künstlerhaus Stuttgart und der Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber, im vergangenen Jahr eine „Summer School“ mit hohem Anspruch. Das Hören und Debattieren im quasi öffentlichen Hörsaal galt einem öffentlich wenig bewussten Teil der Stuttgarter Stadtgeschichte nach 1945: die Situation polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender.

Offiziell heißt es über die Hintergründe des neuen Platznamens: „In der ehemaligen Reinsburg- und Klugestraße lebten nach Ende des Zweiten Weltkriegs hunderte polnisch-jüdische Holocaust-Überlebende. Eine Rückkehr in ihre Heimat war wegen antisemitischer Pogrome nicht möglich.“ Daher wurden sie bis Mitte 1949 als sogenannte „Displaced Persons“ (DPs) unter amerikanischen Schutz gestellt und in beschlagnahmten Wohnungen untergebracht. Während sie von der lokalen Bevölkerung häufig Ablehnung erfuhren und auf eine baldige Emigration nach Israel/Palästina oder in die USA hofften, bauten die „Displaced Persons“ im Stuttgarter Westen ein vielfältiges Alltagsleben auf. Am 29. März 1946 drangen mehr als 200 bewaffnete Polizisten in die Unterkünfte der DPs und führten eine antisemitisch motivierte, gewaltsame Razzia durch. Als die Bewohner sich wehrten, eröffneten die Polizisten das Feuer. Dabei kam der 36-jährige Shmuel Dancyger zu Tode, drei Menschen wurden verletzt. Für die Tat wurde niemand zur Rechenschaft gezogen.

Howard Dancyger, Enkel von Shmuel Dancyger, hat im Rahmen der Einweihung erlebt, dass die 2024 begonnene „Summer School Reinsburgstraße“ fortgesetzt wird. Ein Meilenstein war hier bereits das 2024 in der Reihe „Veröffentlichungen des Archivs der Stadt Stuttgart“ erschienene Buch „Tödliche Razzia. Antisemitismus, Polizeigewalt und die Erschießung eines Auschwitz-Überlebenden in Stuttgart 1946“ der anwesenden Historikerin Io Josefine Geib.

Ja, von dem neuen Shmuel-Dancyger-Platz aus, das lässt sich jetzt schon sagen, wird die Aufarbeitung jüdischen Lebens in Stuttgart nach der bedingungslosen Kapitulation Hitler-Deutschlands am 8. Mai 1945 weitergehen. Auch und gerade im Stuttgarter Westen, der doch bis 1933 nicht nur etwa in der Bismarckstraße durch jüdisches Bürgertum mit geprägt wurde. Ausgrenzung, Erniedrigung, Vertreibung und die vom Nordbahnhof aus rollenden Transporte in deutsche Todesfabriken auf polnischem Gebiet sind historisch dokumentiert.

Shmuel Dancyger, im polnischen Radom geboren, hatte in Stuttgart erst kurz vor den nie gesühnten tödlichen Schüssen seine Frau Regina und seine beiden Kinder wiedergefunden. Alle vier hatten das Konzentrationslager Auschwitz überlebt. Shmuel Dancyger ist im jüdischen Teil des Steinhaldenfeld-Friedhofs in Stuttgart begraben. „Um würdig an Shmuel Dancyger zu erinnern“, hieß es von Seiten der Stadt Stuttgart vor der Platzeinweihung, „wird der Platz am oberen Ende der Reinsburgstraße nun nach ihm benannt“. Am Mittwoch nun sagte der Erste Bürgermeister Fabian Mayer: „Am heutigen Tag bekommt dieser Ort, der für ein beklemmendes Kapitel jüdischer Geschichte in Stuttgart steht, neue Sichtbarkeit. Das Schicksal Shmuel Dancygers zeigt anschaulich, wie wichtig es ist, vergangenes Unrecht aufzuarbeiten und jüdisches Leben im Hier und Jetzt zu schützen.“

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Erstellt:
18. September 2025, 22:06 Uhr
Aktualisiert:
18. September 2025, 23:59 Uhr

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