Ein Leben mit dem Fluss

Die Familie Küenzlen ist seit 120 Jahren für das Wehr an der Rüflensmühle verantwortlich – Kaum jemand kennt die Murr besser

Seit der Murrkorrektion 1898 und dem damit verbundenen Bau eines neuen Fallenwehrs ist die Familie Küenzlen für die Bedienung und die Unterhaltung des Wehrs an der Rüflensmühle in Oppenweiler verantwortlich. „Rund um die Uhrmuss jemand da sein“, sagt Jürgen Küenzlen, der Betreiber der Mühle. Seine Mutter Gerhilde blickt auf mehr als50 Jahre Wehrbereitschaft zurück.

Die jahrzehntelange Wehrbereitschaft von Jürgen und Gerhilde Küenzlen hat bald ein Ende: Mit dem Bau des Hochwasserrückhaltebeckens und der damit einhergehenden Verlegung des Flussbetts wird sie überflüssig. Foto: A. Becher

© Pressefotografie Alexander Beche

Die jahrzehntelange Wehrbereitschaft von Jürgen und Gerhilde Küenzlen hat bald ein Ende: Mit dem Bau des Hochwasserrückhaltebeckens und der damit einhergehenden Verlegung des Flussbetts wird sie überflüssig. Foto: A. Becher

Von Lorena Greppo

OPPENWEILER. Die Geschichte der Familie Küenzlen ist untrennbar mit der Rüflensmühle und so mit der Murr verknüpft. In der Grundbucheintragung der Mühle von 1898 ist die Verantwortung der Familie für das Wehr festgehalten. „Im Prinzip ist es lebensbestimmend“, sagt Jürgen Küenzlen. Denn das Wehr dürfe nie allein gelassen werden. Will die Familie Küenzlen in den Urlaub fahren, muss sie sich rechtzeitig um eine Vertretung kümmern. Früher, als noch Getreide gemahlen wurde, habe das Mühlenpersonal ausgeholfen, erzählt Gerhilde Küenzlen. Weil ihr Mann jedoch in den 70er-Jahren an einer schweren Mehlallergie erkrankte, gab die Familie den Mühlbetrieb auf. Ab und zu habe man dann einen Freund der Familie eingespannt, aber das sei eher selten der Fall. „Es gab immer wieder Diskussionen darüber, ob und von wem wir Unterstützung bekommen“, sagt Jürgen Küenzlen. Denn bei Hochwasser oder Eisgang könne die Familie nicht alles allein machen. Neben der Wehrbetätigung müsse nämlich das Wehr auch von Bäumen und anderem störenden Material frei gehalten werden. Nur dafür hat sich Jürgen Küenzlen inzwischen einen Bagger besorgt.

Seit ihrer Hochzeit 1963 mit dem Mühlenbetreiber Horst Küenzlen hat Gerhilde Küenzlen am Wehr an der Rüflensmühle mitgeholfen. Gerade in den Frühjahrsmonaten, wenn der Schnee in den höheren Lagen schmolz, sei man immer in Wachstellung gewesen, erzählt die heute 80-Jährige. „Das waren noch andere Winter“, weiß sie. „Da konnte man auf der Murr Schlittschuh laufen.“ Manchmal habe man die Firma Merkle hinzurufen müssen, die mit dem Bagger das Wehr von der dicken Eisschicht befreit habe. „So hoch wie früher bei der Schneeschmelze wird das Wasser heutzutage nicht mehr“, hat Gerhilde Küenzlen festgestellt. Dafür komme ein Hochwasser heutzutage weitaus schneller an der Mühle an. „Die Murr ist unberechenbarer geworden.“

Das Leuchten des Turms auf der Hohen Brach gab Entwarnung

Bei einer Wasserhöhe von einem Meter kommt das erste der beiden Wehre an der Rüflensmühle zum Einsatz. Früher musste man hierfür noch kurbeln, heute funktioniert das elektrisch und automatisch. Erst wenn der Pegel auf 2,60 Meter gestiegen ist, wird auch das zweite Wehr bemüht. Dieses geht nicht automatisch in Betrieb. Für die Küenzlens bedeutet das: Spätestens wenn der Wasserstand bei 2,50 Meter ist, muss jemand im Einsatz sein. Früher war das auch Gerhilde Küenzlen. „Heute schaffe ich das nicht mehr.“ Ihr Sohn Jürgen und dessen Frau Beate betreuen das Wehr seitdem, wobei Jürgen Küenzlen sagt: „In Perfektion bedienen kann nur noch ich es.“ Daher wirft der Ingenieur immer einen scharfen Blick auf die Wetterprognose, wenn er sich etwas weiter von der Mühle entfernt. Erst vor wenigen Wochen, als starke Regenfälle in der Region den Pegel der Murr erhöhten, ist Jürgen Küenzlen gleich zweimal von einem geschäftlichen Termin in Koblenz nach Hause zurückgerufen worden. Letzten Endes sei die Murr aber nicht über 2,50 Meter hinaus angestiegen.

Ähnliche Erlebnisse hatte auch Gerhilde Küenzlen, die als Lehrerin zuerst in Murrhardt, später in Backnang gearbeitet hat. „Der Schutz der Gemeinde und der Anlieger war immer die erste Priorität. Die an der Schule haben genau gewusst: Ich komme wieder, wenn die Gefahr vorüber ist.“ So manche Nacht habe sie am Wehr verbracht, den Pegel bangend im Blick. Steigt der Pegel nachts bedrohlich, gehen im Hause Küenzlen die Sirenen – „da bleibt keiner mehr im Bett“, beschreibt Jürgen Küenzlen deren Wirkung lachend. Der Bauingenieur ist aber auch sonst gut ausgerüstet: Heutzutage gebe es viele gute Apps, auch die Wettervorhersage sei genauer. „Die Technik ist sehr hilfreich“, sagt Jürgen Küenzlen. Wobei es nicht immer Hightech sein muss. Vor allem die mechanische Pegelinfo unter der Telefonnummer 480 frage er in Hochwasserfällen ständig ab. „Mit keiner Stimme habe ich so viel telefoniert wie mit dieser auf dem Tonband“, erzählt er schmunzelnd. Seine Mutter Gerhilde hatte seinerzeit noch ganz andere Richtwerte: Wenn sie nach langen Regenfällen den Fernmeldeturm auf der Hohen Brach wieder hat leuchten sehen, habe sie beruhigt ins Bett gehen können. „Dann habe ich gewusst: Für heute bist du fertig.“

Der Keller ist innerhalb von zwei Stunden komplett ausgeräumt

Was die Wehrbereitschaft bedeutet, wenn es wirklich hart kommt, haben die Küenzlens unter anderem 2011 erlebt. Die Hochwasserspitze habe sich über einen halben Tag gehalten. „Es wollte gar nicht nachlassen“, erinnert sich Jürgen Küenzlen. Immer wieder sei er rausgegangen, habe das Wehr im Auge behalten. Ständig habe er die Kleidung wechseln müssen, durchnässt sei er gewesen. Irgendwann war er nicht nur durchgeweicht, sondern auch völlig erschöpft. „Am Ende konnte ich kaum noch stehen.“ Hat die Familie nie der Gedanke beschlichen, die Mühle aufzugeben? Zumal man über viele Jahre hinweg keine Versicherung dafür bekommen hat. „Trotz der Hochwasser möchte ich es nicht missen. Ich lebe mit dem Fluss“, sagt Jürgen Küenzlen.

Das sei auch ein Grund, warum sie vor einigen Jahren so verbissen darum gekämpft haben, das Wasserrecht zu behalten. Und auch seine Mutter bereut nichts. Nach dem Tod ihres Mannes hat Gerhilde Küenzlen Angebote für die Mühle bekommen, brachte es aber nicht übers Herz, zu verkaufen. „Mein Sohn hätte mich gehasst, hätte ich das gemacht.“ Die Küenzlens sind inzwischen Hochwasser-Profis: Der Keller sei innerhalb von zwei Stunden ausgeräumt, sagen sie. Dennoch sind sie nun, da ein Kompromiss mit dem Wasserverband gefunden wurde, froh, wenn mit dem neuen Hochwasserrückhaltebecken die Wehrbereitschaft endet. „Wir können es kaum erwarten“, sagt Jürgen Küenzlen.

Info
Die Geschichte der Rüflensmühle

Als „molendinum sub Richenberg“ (Mühle unter dem Reichenberg) wird die Rüflensmühle 1231 erstmals urkundlich erwähnt. Erbaut wurde sie vom Landesherrn, Markgraf Hermann V. von Baden.

1379 ging die Mühle erstmals in Privatbesitz an den Müller „Ruflin“ über. Hierher leitet sich vermutlich der Name Rüflensmühle ab. In den folgenden Jahrhunderten wechselte die Mühle mehr als einmal den Besitzer. Anfang des 19. Jahrhunderts beginnt die Mühlengeschichte der Familie Küenzlen, als Christoph Küenzlen die Müllerstochter Katherina Belz heiratet.

1898 wurde der Verlauf der Murr korrigiert, sodass der Fluss statt an der Westseite des Wachthäusles künftig entlang der Ostseite verlief. Im Zuge dessen wurde das Streichwehr abgebrochen und stattdessen ein Fallenwehr gebaut. „Das Wehr wurde quasi als erste Hochwasserschutzmaßnahme von der Gemeinde Reichenberg gebaut“, erklärt Jürgen Küenzlen. Dessen Urgroßonkel Viktor übernahm damals das Wehr für sich und seine Rechtsnachfolger in Bedienung und Unterhalt. Diese Pflicht steht sogar im Grundbuch der Rüflensmühle und ist mit der Mühle untrennbar verbunden.

1913 bekam die Familie Küenzlen die Genehmigung, ein unterschlächtiges Wasserrad einzusetzen, mit dem sie Strom für den Hausbedarf erzeugten. 1936 wurde eine mit Wasserkraft betriebene Starkstromanlage eingebaut. Seit 1965 wird der Stromüberschuss in das Versorgungsnetz eingespeist.

1929 waren elf namentlich genannte Personen als Eis- und Wasserwehr zur Unterstützung bei Hochwasser und Eisgang verpflichtet.

1975 wurde aufgrund einer schweren Erkrankung Horst Küenzlens der Mühlenbetrieb eingestellt. Als Wasserkraftanlage wird die Mühle jedoch bis heute genutzt.

2011 liefert der heutige Mühlenbesitzer Jürgen Küenzlen einen Vorschlag zum Ausbau der Wasserkraftanlage ab. Dieser wird vom Wasserverband abgelehnt, der sich auf den innerörtlichen Hochwasserschutz beruft. Die Enteignung der Küenzlens steht im Raum. Nach langem, öffentlichkeitswirksamem Tauziehen finden beide Seiten 2013 einen Konsens. Der Bau des Hochwasserrückhaltebeckens ist bereits in die Wege geleitet.

Zum Artikel

Erstellt:
18. Juli 2019, 09:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Lesen Sie jetzt!

Stadt & Kreis

Kinderspiel gilt in Backnang nicht mehr als Lärm

Die Stadt Backnang aktualisiert nach 20 Jahren ihre Polizeiverordnung. Künftig dürfen Kinder von 8 bis 22 Uhr auf Kinderspielplätzen toben. Die üblichen Lärmgrenzwerte dürfen nach einer Gesetzesänderung bei der Beurteilung der Geräuschentwicklung nicht mehr herangezogen werden.