Eleonore Pfeil feiert heute ihren 100. Geburtstag

Die gebürtige Stuttgarterin, die jetzt in Lippoldsweiler zu Hause ist, hat ein Buch über ihre erste Liebesgeschichte veröffentlicht.

Gut gelaunt und bestens präpariert empfängt Eleonore Pfeil im Vorfeld ihres ganz besonderen Geburtstags die Lokalzeitung. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Gut gelaunt und bestens präpariert empfängt Eleonore Pfeil im Vorfeld ihres ganz besonderen Geburtstags die Lokalzeitung. Foto: A. Becher

Von Renate Schweizer

BACKNANG. Wer weiß noch auf den Tag genau, wann er den Führerschein gemacht hat? Eleonore Pfeil geborene Messerle, die immer schon alle nur Lore nennen, weiß es: Am 16. Mai 1955 war das und sie fuhr 58 Jahre unfallfrei. Überhaupt hat sie die großen und kleinen Daten ihres Lebens beim Besuch der Backnanger Kreiszeitung parat. Sie erzählt sie gerne und „freihändig“ ohne einen einzigen Blick auf ihre Notizen – es ist ja ihr Leben, in dem sie sich bestens auskennt, und was für ein Leben! „100 Jahre“, so sagt sie selbst, „nein, damit hätte ich nicht gerechnet – damit rechnet kein Mensch.“

Am 30. Dezember 1920 ist sie in Stuttgart geboren, zwei Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, mitten hinein in ein hungerndes, frierendes Deutschland, in dem für Geld immer weniger zu kaufen ist. 1923 wird die jüngere Schwester Erika auf dem Höhepunkt der Hyperinflation geboren. Nicht daran zu denken, das Krankenhaus zu bezahlen: Die kleine Schwester kommt in der Marktstraße im Elternhaus mit Metzgerei und Weinstube auf die Welt.

1934 gibt der Vater aus Krankheitsgründen die Metzgerei auf, die Weinstube Messerle bleibt geöffnet, auch über den Tod des Vaters 1936 hinaus. Fast 16 Jahre ist Lore alt, als der Vater stirbt. „Ich wäre gerne auf die Handelsschule gegangen“, erzählt die Jubilarin, „aber das kam nicht infrage. Nach der Mittleren-Reife-Prüfung im März 1937 trat ich schon im Juni meine erste Bürostelle an.“

Ihre Jugendliebe, Hermann M., hat sie da eben schon kennengelernt: Er war zu Gast in der Weinstube und hörte sie Klavier spielen. Sie hat 1998, also mehr als 60 Jahre später, ein Buch über diese Liebesgeschichte veröffentlicht, bestehend aus Tagebuchaufzeichnungen und Briefen. „Über Raum und Zeit“ heißt es und es bietet anrührende Einblicke in eine vergangene Welt. Der junge Mann ist 22, aber man siezt sich zunächst selbstverständlich und alles, was geschieht – und vor allem, was nicht geschieht –, findet unter den wachsamen Augen der Mutter statt. Heimliche Küsse auf dem Sofa der Eltern, wenn die Mutter einmal gnädig kurz das Zimmer verlassen hat, und Briefe, Briefe ohne Ende. 1939 überfällt Hitler Polen und der Zweite Weltkrieg beginnt. Zwei Jahre später, an ihrem 21. Geburtstag, dem 30. Dezember 1941, fällt Hermann M. im Russlandfeldzug. Lore erfährt erst im März 1942 davon. „Nach Lage der Dinge ist damit zu rechnen, dass er bei den Kämpfen um Feodosia, wo die Abteilung infanteristisch eingesetzt war, den Heldentod gefunden hat.“ So hörten sich Todesnachrichten damals an. Dutzende von Briefen und Päckchen aus Backnang gehen zwischen Silvester 1941 und März 1942 ins Leere. „Wenn ich auch seit vielen Wochen keine Nachricht von dir habe, so hoffe ich doch jeden Tag aufs Neue darauf“, schreibt Lore am 24. Februar 1942. Sie war eben volljährig geworden, sie hatten ans Heiraten gedacht.

Es sollten sechs Jahre vergehen, bis Lore Messerle wieder glücklich wurde, und ein weiteres Jahr, bis aus ihr Lore Pfeil wurde: Im August 1948 heiratete sie Otto Pfeil. „Otto wusste es gleich, als er mich beim Familienabend des Liederkranzes sah“, erzählt die Jubilarin lächelnd. „Ich brauchte ein bisschen länger, aber dann hat’s geschnackelt.“ Die beiden führten eine Spedition mit Fernlastzügen, ab 1964 „nur“ noch ihr Reifenhandelsgeschäft.

„Wir haben immer gut zusammengearbeitet, haben uns ergänzt und waren füreinander da. Er hat sich ums Technische gekümmert und ich ums Kaufmännische – das hab ich geschafft, auch ohne Handelsschule“, berichtet Lore Pfeil zwischen Stolz und Wehmut. Eine Tochter, Maja Leonore, bekamen sie, später zwei Enkelinnen, und in der Wohnzimmerschrankwand stehen die Fotos von zwei Urenkeln.

Die hat Otto Pfeil nicht mehr kennengelernt, er starb 1994. Auch seine sechs Geschwister und Lores jüngere Schwester Erika sind alle schon gestorben – sie ist ganz allein übrig geblieben. Mehr als 82 Jahre lebte sie in Backnang, 2002 ist sie mit der Familie nach Auenwald-Lippoldsweiler gezogen. Dort hat sie eine eigene Wohnung im Haus.

„Und jetzt zum Schluss noch Corona“, beschwert sie sich gut gelaunt, „das hätt ich nicht gebraucht – mir hat der Krieg gereicht.“ Am Anfang hat Corona sie tatsächlich an den Krieg erinnert. „Etwas Großes, das über einen hereinbricht, und man kann gar nichts machen“, sagt sie. „Ein bisschen was kann man schon machen“, versichert ihre Tochter. Sie passt liebevoll auf, dass die Mutter FFP2-Maske trägt und Abstand hält – und sie „übersetzt“, wenn ihre Mutter etwas nicht verstanden hat, denn Augen und Ohren haben nachgelassen. „Aber mein Verstand“, erklärt Lore Pfeil knitz, „der ist noch ganz gut, glaube ich.“

Kann man wohl sagen: Herzlichen Glückwunsch zum Hundertsten!

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Erstellt:
30. Dezember 2020, 11:30 Uhr

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