Merz-Besuch in Ankara
Erdogans außenpolitische Stärke
Bundeskanzler Friedrich Merz kommt Donnerstag bei seinem Antrittsbesuch in der türkischen Hauptstadt mit Präsident Recep Tayyip Erdogan zusammen.
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Innenpolitischer Druck: Protest in Istanbul gegen die Verhaftung von Erdogans Widersacher Ekrem Imamoglu
Von Susanne Güsten
In Ankara geben sich europäische Spitzenpolitiker die Klinke in die Hand. Am Donnerstag komm Bundeskanzler Friedrich Merz bei seinem Antrittsbesuch in der türkischen Hauptstadt mit Präsident Recep Tayyip Erdogan zusammen, am Montag hatte der britische Premier Keir Starmer in Ankara Station gemacht: Erdogan ist für Europa so wichtig wie nie. Starmer brachte Erdogan die Genehmigung für die Lieferung von Eurofighter-Kampfjets mit, Merz will mit Erdogan über Migration sprechen. Erdogans Unterdrückung der Opposition und der Meinungsfreiheit sind dagegen keine Themen. Der 71-jährige Präsident muss keine Kritik der Europäer fürchten.
Europa erwartet keinen baldigen Regierungswechsel in Ankara, denn Erdogan sitzt auch nach 22 Jahren an der Macht fest im Sattel. Howard Eissenstat, Türkei-Experte an der St-Lawrence-Universität in den USA und am Institut für Türkei-Studien der Universität Stockholm, rechnet damit, dass der türkische Staatschef auch nach der nächsten Wahl 2028 und damit über das derzeitige Limit seiner Amtszeit hinaus regieren wird. „Seine Position wird nicht ernsthaft in Frage gestellt“, sagte Eissenstat. „Er wird auf absehbare Zeit an der Macht bleiben.“
Erdogan steht innenpolitisch unter Druck
Erdogan hat derzeit innenpolitisch zwar einige Probleme. So klagen die Wähler über eine krasse Inflation von mehr als 30 Prozent sowie über explodierende Mieten und Schulgebühren. Seine Partei AKP liegt in den Umfragen hinter der Opposition. Bei der Wahl im türkischen Teil von Zypern verlor kürzlich Erdogans Wunschkandidat. Zudem wird hin und wieder spekuliert, wie lange Erdogans Gesundheit noch mitspielt – zuletzt bei einem Treffen mit Donald Trump, der zwar acht Jahre älter ist als Erdogan, aber wesentlich agiler wirkt. In der Umgebung des türkischen Präsidenten laufen sich mögliche Nachfolger warm und kämpfen mit gezielten Indiskretionen um gute Ausgangspositionen.
Erdogan ist auch mit seinem Ziel gescheitert, die Türken frommer zu machen: Die Zahl der gläubigen Muslime im Land nimmt ab und die der Alkoholkonsumenten steigt. Nach Daten des Umfrageinstituts Konda bezeichnen sich 46 Prozent der Türken als fromm – 2008 waren es noch 55 Prozent. Die Zahl der Atheisten stieg von zwei auf acht Prozent. Wie der Kolumnist Ertugrul Özkök von der Wirtschaftsnachrichtenseite Ekonomim berichtete, fand das Institut Ipsos heraus, dass 52 Prozent der volljährigen Türken mindestens einmal in ihrem Leben Alkohol getrunken haben – vor fünf Jahren waren es nur 40 Prozent.
Erdogan wisse, dass er aus eigener Kraft keine Wahlen mehr gewinnen könne, sagte der Türkei-Experte Soner Cagaptay vom Washington-Institut für Nahost-Studien. Der Präsident hat seinen Herausforderer von der Oppositionspartei CHP, Ekrem Imamoglu, ins Gefängnis werfen lassen. Ein Istanbuler Gericht erließ am Wochenende einen zusätzlichen Haftbefehl wegen Spionage gegen den Hoffnungsträger der Opposition. Gegen den Ankaraner Bürgermeister Masur Yavas, der Imamoglu als CHP-Präsidentschaftskandidat ersetzen könnte, wird ebenfalls ermittelt.
Die CHP will weiterkämpfen, aber: „Wir sind müde“, sagte Parteichef Özgür Özel nach dem neuen Haftbefehl gegen Imamoglu. Er wirft der regierungstreuen Justiz vor, die neue Vorwürfe aus dem Hut gezaubert zu haben, weil die Wähler trotz der bisherigen Strafverfahren zu Imamoglu halten. Dass Imamoglu rechtzeitig vor der nächsten Wahl in drei Jahren aus dem Gefängnis entlassen wird, ist unwahrscheinlich. Er sitzt seit März wegen angeblicher Korruption in Untersuchungshaft, ohne dass eine formelle Anklage oder ein Prozessbeginn in Sicht wären. Jetzt kommt das Verfahren wegen Spionageverdacht hinzu.
Die Türkei – ein schwieriger Partner für den Westen
Während er die CHP mit der Prozesswelle in Schach hält, arbeitet Erdogan an der Verlängerung seiner Amtszeit. Türkei-Experte Eissenstat ist überzeugt, dass der Präsident auch deshalb mit den Kurden über eine Friedenslösung nach mehr als 40 Jahren Krieg verhandelt, weil er sich mit den Stimmen der Kurdenpartei DEM im Parlament die nötigen Mehrheiten für eine neue Kandidatur 2028 sichern will. Demselben Ziel diene der Versuch der AKP, oppositionelle Parlamentsabgeordnete auf ihre Seite zu bringen, meint Eissenstat.
Das stellt Europa vor ein Dilemma. Auf der einen Seite kann die Türkei mit ihrer großen Armee und ihrer modernen Rüstungsindustrie den Europäern bei der Verstärkung ihrer Verteidigungsfähigkeit helfen. „Auf der anderen Seite ist die Türkei keine Demokratie und wird in absehbarer Zeit auch keine sein“, sagt Eissenstat.
Zudem konzentriert sich die türkische Außenpolitik weniger auf Europa als auf andere Weltgegenden wie die Golf-Staaten oder Afrika. Erdogan sehe Russland als wichtigen Partner und teile die Ansicht von Wladimir Putin, dass die vom Westen dominierte Weltordnung überwunden werden müsse, sagt Eissenstat. Für den West sei und bleibe Erdogans Türkei „ein wertvoller und gleichzeitig extrem problematischer Partner“.
