Neue Verhaftungen in der Türkei
Erdogans nächster Schlag gegen die Opposition
Die türkische Justiz nimmt weitere Bürgermeister der Oppositionspartei CHP fest. Kritiker halten die Korruptionsvorwürfe gegen die Verhafteten für vorgeschoben.

© Francisco Seco/AP/dpa
Im Kampf um die Macht sei dem türkischen Präsidenten jedes Mittel recht, sagen Kritiker.
Von Susanne Güsten
Die türkische Justiz hat am Wochenende die Bürgermeister der Touristenhochburg Antalya und zwei weiterer Großstädte wegen angeblicher Korruption festnehmen lassen – sie gehören alle der Oppositionspartei CHP an. Damit sind nun 13 CHP-Bürgermeister und hunderte ihrer Mitarbeiter hinter Gittern, darunter der im März verhaftete Bürgermeister von Istanbul und CHP-Präsidentschaftskandidat Ekrem Imamoglu. Sie hatten bei den Kommunalwahlen im vergangenen Jahr gesiegt und damit die Regierungspartei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan gedemütigt. Erdogan wolle Wahlen in der Türkei nun ganz abschaffen, sagt CHP-Chef Özgür Özel, gegen den ebenfalls ermittelt wird.
Erdogans Regime gebe sich inzwischen keine Mühe mehr, seine Repression gegen die CHP mit dem Anschein des Korruptionsverdachts zu bemänteln, schrieb der prominente Journalist Timur Soykan von der Zeitung „BirGün“ auf der Plattform X. Die Regierung sage dem Wähler: „Du kannst keine Regierung wählen außer uns.“ Wenige Stunde nach seinem Kommentar wurde Soykan festgenommen. Ihm wird nach Angaben seiner Zeitung die Verbreitung von Falschinformationen vorgeworfen.
Bisher sei die Türkei mit einem autokratischen System wie in Ungarn vergleichbar gewesen, sagt Howard Eissenstat, Türkei-Experte an der St-Lawrence-Universität in den USA und am Institut für Türkei-Studien der Universität Stockholm. In einem solchen System gebe es eine echte Opposition, auch wenn faire Bedingungen des politischen Wettbewerbs fehlten. Nun steuere die AKP das Land in ein System wie in Ägypten oder Russland, sagte Eissenstat unserer Zeitung.
Stärkste Kraft in den Kommunen
Die CHP war bei den Kommunalwahlen stärkste politische Kraft der Türkei geworden und kontrollierte bis zum Beginn der Festnahmen ihrer Bürgermeister die meisten Millionenstädte der Türkei, darunter die Metropolen Istanbul, Izmir und Ankara. Mit Imamoglu benannte sie zudem einen Präsidentschaftskandidaten, der Erdogan laut Umfragen schlagen könnte. Damit schuf sich die Partei eine Grundlage, um Erdogan und die AKP bei den nächsten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen spätestens 2028 herauszufordern. Hohe Inflation, sinkende Reallöhne und die Perspektivlosigkeit vieler junger Türken treiben viele Wähler von Erdogan und der AKP fort.
Mit der Festnahme von Imamoglu führte die regierungstreue Justiz im März den ersten Schlag gegen die Machtbasis der CHP. Zusammen mit Imamoglu kamen auch mehrere Stadtteilbürgermeister in Istanbul unter Korruptionsverdacht in Haft. Anfang voriger Woche wurde der Bürgermeister der CHP-Hochburg Izmir abgeführt, nun holte die Polizei die CHP-Bürgermeister von Antalya, Adiyaman und Adana ab. Gegen Özel, der auch Parlamentsabgeordneter ist, läuft ein Verfahren, um seine Immunität aufzuheben. Ein interner Machtkampf in der CHP spielt Erdogan in die Hände.
Kontrolle über die Justiz
Die Opposition hat kaum Möglichkeiten, sich juristisch zu wehren, denn Erdogans Regierung kontrolliert auch das Gremium, das Richter und Staatsanwälte ernennt. In einigen Fällen wurden bei den Festnahmen von CHP-Politikern auch deren Anwälte in Haft genommen. Korruptionsvorwürfe gegen AKP-Politiker werden von der Justiz dagegen ignoriert.
Von „Feindes-Justiz“ sprach CHP-Chef Özel am Sonntag. Die Festgenommenen seien „Geiseln des Putsches“. Zwei andere Oppositionsparteien, die pro-kurdische DEM und die rechtspopulistische Siegespartei, solidarisierten sich am Sonntag mit der CHP. Die türkische Justiz hatte in den vergangenen Jahren Dutzende DEM-Bürgermeister verhaften lassen; der Vorsitzende der Siegespartei, Ümit Özdag, saß bis Juni selbst fünf Monate in Haft.
Özel nennt Erdogan einen Junta-Chef und wirft dem Präsidenten und dessen rechtsnationalistischen Partnern vor, sie hätten „der Nation den Krieg erklärt“ und wollten in der Türkei ein „Regime der Unterdrückung“ errichten: „Sie wollen die Wahlen abschaffen“, sagte Özel nach den Festnahmen vom Wochenende. Er rief Erdogan auf, schon im November dieses Jahres wählen zu lassen. Die CHP liegt nach eigenen Angaben bei etwa 40 Prozent der Wählergunst und damit zehn Prozentpunkte vor der AKP.
Unbelegte Korruptionsvorwürfe
Erdogan sagte dagegen, die CHP versinke im Korruptionssumpf und könne das vor den Wählern nicht mehr verheimlichen. Er rate der Opposition, „die Entscheidungen der unabhängigen Justiz“ abzuwarten. Die Türken würden die Regierungsgeschäfte sicher nicht einer Partei mit „Korruptions-Syndrom“ anvertrauen, sagte der Präsident.
Türkei-Experte Eissenstat glaubt nicht, dass Erdogan die Opposition ganz abschaffen will. „Die türkische Regierung stellt sich das so vor, dass die CHP weiter existiert, aber nur noch als leere Hülle“, sagte Eissenstat: In einem solchen Zustand werde die CHP nicht in der Lage sein, der Erdogan-Regierung wirksam die Stirn zu bieten.