Unfälle im Radverkehr

Gefährdete Senioren auf E-Bikes

Radunfälle mit Todesfolge ereignen sich häufig beim Kreuzen von Landstraßen. Immer wieder verunglücken Senioren mit E-Bikes. Was lässt sich dagegen tun?

Experten raten Senioren, einen Pedelec-Kurs zu machen und zu lernen, sich selbst einzuschätzen.

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Experten raten Senioren, einen Pedelec-Kurs zu machen und zu lernen, sich selbst einzuschätzen.

Von Philipp Schulte

Wenn Polizisten tödliche Radunfälle protokollieren, notieren sie oft Schlagworte wie: „Pedelec, weiblich, 79 Jahre“, „Pedelec, weiblich, 77 Jahre“, „Pedelec, männlich, 85 Jahre“, „Pedelec, männlich, 81 Jahre“. Es geht immer um Unfallkategorie 1 und Unfalltyp 3: Mutmaßlich haben die Radfahrer den Unfall beim Kreuzen einer Straße verursacht. Ereignet haben sich die vier Unfälle in den vergangenen Jahren im ländlichen Oberschwaben. Die beiden Frauen wollten ihren Ehemännern beim Queren einer Landstraße folgen. Die Neunundsiebzigjährige wurde dabei frontal von einem Auto erfasst und über die Motorhaube geschleudert. Die Siebenundsiebzigjährige wurde von einem Auto gestreift, stürzte und zog sich tödliche Kopfverletzungen zu.

Die Zahl der getöteten Radfahrer im Straßenverkehr geht in Deutschland seit 1980 stark zurück. Damals kamen rund 1300 Menschen ums Leben, für 2024 zählten Statistiker 441 Tote, fünf weniger als im Vorjahr. Die Zahlen sinken, obwohl die Menschen so viel Rad wie noch nie fahren. Radfahren ist also grundsätzlich sicherer geworden, was auch an mehr Tempo-30-Zonen innerorts liegt.

Tödliche Unfälle werden weniger

Doch das Problem liegt außerorts. Seit ein paar Jahren gibt es einen Anstieg bei Unfällen außerhalb von Stadt- und Dorfzentren. Das zeigt eine Studie der Unfallforschung der Versicherer (GDV) aus dem vergangenen Sommer. Die Zahl der Radfahrer, die auf Landstraßen ums Leben kommen, ist zwischen 2013 und 2023 um 37 Prozent gestiegen. Auch die Zahl der dort schwer verletzten Radfahrer liegt im selben Zeitraum um 29 Prozent höher.

2023 kamen 189 Radfahrer auf Landstraßen ums Leben, was einem Anteil von 42 Prozent aller tödlich verunglückten Radfahrer entspricht. Gefährlich sind besonders Kreuzungen, etwa wenn ein Feldweg eine Landstraße quert. Dort ereignen sich 68 Prozent der schweren Unfälle. Die tödlichen Unfälle dort werden nach Angaben der Polizei meist von den Radfahrern verursacht. Bei zwei Dritteln der tödlichen Unfälle sitzen Senioren auf dem Rad. In den vier zu Beginn vorgestellten Fällen missachteten die Radfahrer die Vorfahrt. Sie schafften es nicht, rechtzeitig vor dem nächsten Auto die Straße zu queren.

Können Radfahrer also Risiken nicht richtig einschätzen? Sind E-Bikes das Problem? Die Verkehrsinfrastruktur? Fest steht: Neue Radwege verhindern nur bedingt schwere Unfälle. Das gilt besonders für Stellen, an denen eine Landstraße quert.

Matthias Zimmermann, 54, hat Radunfälle mit Todesfolge für Baden-Württemberg analysiert. Der Verkehrsingenieur leitet die Abteilung Straßenentwurf und -betrieb am Institut für Straßen- und Eisenbahnwesen am Karlsruher Institut für Technologie. Außerdem ist Zimmermann Landesvorsitzender des Vereins Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club Baden-Württemberg. Der Forscher konzentriert sich auf Radverkehrssicherheit. Die Ergebnisse seiner Analyse aus dem Südwesten lassen sich zwar nicht auf ganz Deutschland übertragen. Jedoch häufen sich Unfälle der Kategorie 1, Radfahrer verursacht einen Einbiegen-Kreuzen-Unfall, auch in anderen Bundesländern.

Ältere sind häufig Opfer und Verursacher

In Bayern, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen ist dieser Unfalltyp für mehr als die Hälfte der Getöteten auf Landstraßen ursächlich. In Rheinland-Pfalz und Brandenburg trägt „Einbiegen/Kreuzen“ mit einem Drittel zur Gesamtzahl der Unfälle bei. An Position zwei folgen meist Unfälle im Längsverkehr. Für das Saarland, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Bremen und Hamburg liegen keine Daten vor.

Matthias Zimmermann nennt die Altersstruktur bei den tödlichen Radunfällen außerhalb von Ortschaften in Baden-Württemberg „bemerkenswert“. Häufig sind Menschen, die älter als fünfundsechzig Jahre sind und ein Pedelec fahren, Hauptverursacher und zugleich Opfer. Von 147 Radfahrern, die zwischen 2017 und 2022 außerhalb der gelben Ortsschilder tödliche Unfälle verursacht haben, sind gut siebzig Prozent älter als 65 Jahre. Die Zahl beziehen sich auf Pedelecs, bei normalen Fahrrädern liegt sie etwas niedriger. Nimmt man nur Räder mit Elektroantrieb, verursachen Menschen über 65 Jahre gut achtzig Prozent aller Einbiegen-Kreuzen-Unfälle. Vierzig Prozent von ihnen sind sogar älter als achtzig Jahre. Es zeigt sich ein Muster: Wenn Senioren mit einem Pedelec eine Landstraße kreuzen wollen, besteht erhöhtes Unfallrisiko.

Wenn Menschen im hohen Alter wieder anfangen, Rad zu fahren, kauften sie sich häufig ein Fahrrad mit Elektroantrieb, sagt Matthias Zimmermann. E-Bike ist der Überbegriff für verschiedene Arten von Elektrorädern, neunzig Prozent davon sind Pedelecs, die über eine Tretunterstützung bis 25 Stundenkilometer verfügen.

Radwege schaffen kaum Abhilfe

Für Senioren sei es schwierig, „die Situation hinzubekommen“, also eine Lücke auf einer Landstraße zu finden, sagt Matthias Zimmermann. Der Forscher hat sich mehrere Unfall-Kreuzungen genauer angeschaut. „Das Überraschende ist, dass es keine baulichen Kreuzungen sind: Ein Wirtschafts- oder Waldweg kreuzt die Straße, da plant man nicht groß.“ Es sei trotzdem wahrscheinlich, dass dort viele Radfahrer kreuzen. An solchen Stellen herrsche mindestens Tempo siebzig, eher hundert.

Für Senioren sei es außerdem schwierig, ihr Pedelec im richtigen Moment in Gang zu bekommen. „Aber nur zu sagen, dass die Alten nicht fahren können, greift zu kurz.“ Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann sagte letztens der Süddeutschen Zeitung: „Als Radfahrer sollte ich mich schon fragen: Wie kann ich Risiken reduzieren?“ Zimmermann sagt etwa, man sollte nicht blind auf den Vordermann vertrauen, sondern die Situation selber einschätzen. „Immer wieder fahren Frauen ihren Männern hinterher, ohne nach links und rechts zu schauen.“

Es gibt eigens Pedelec-Kurse, die das subjektive Sicherheitsgefühl steigern. Auswertungen zeigen, dass Teilnehmer nach dem Kurs öfter Rad fahren, teilweise setzen sie das Rad auch auf Strecken ein, die sie vorher mit dem Auto absolviert haben. In den Kursen machen Teilnehmer, die mehrheitlich weiblich und älter als sechzig Jahre sind, Fahrtechnik-Übungen. Sie schulen damit ihre Koordination und Reaktion, sie lernen richtig zu bremsen, sicher auf- und abzusteigen, passend anzufahren, abbiegen und Kurven zu fahren. Ein E-Bike sei zwar nicht unbedingt unfallanfälliger, jedoch verleite es dazu, sich auf den Motor zu verlassen, so Zimmermann.

Die Verkehrspsychologin Susann Richter, 60, forscht als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Technischen Universität Dresden. Fahrrad fährt sie ab und zu, ohne Elektroantrieb. „Man sagt zwar immer Radfahren verlernt man nicht, aber das ist nicht ganz richtig. Die Routine und der Automatismus müssen wieder in Gang kommen. Mit einem Pedelec hat man eine viel kürzere Reaktionszeit, weil man schneller unterwegs ist.“ Das Fahrzeug müsse man sehr gut im Griff haben. „Wenn in einer kritischen Kreuzungssituation unklar ist, wie ich das Pedelec bediene, dann ist das gefährlich.“

Aus verkehrspsychologischer Sicht lassen Wahrnehmung und kognitive Fähigkeiten mit dem Alter nach. Senioren könnten zwar auf ihre Erfahrung zurückgreifen, aber das reiche nicht mehr aus, da sich der Straßenverkehr ständig verändere, sagt Susann Richter. „Es müssen viele Informationen zusammen aufgenommen werden und da haben ältere Menschen Schwierigkeiten, besonders bei der schnellen Verarbeitung.“ Bei Senioren könnten auch Probleme bei der Inhibitionskontrolle auftreten. Sprich: Sie schaffen es nicht, das einmal begonnene Queren einer Straße abzubrechen – etwa wenn die Situation wider Erwarten gefährlich wird.

Susann Richter rät Senioren, einen Pedelec-Kurs zu machen und zu lernen, sich selbst einzuschätzen. Gegebenenfalls sollten sie ihre Sehhilfen anpassen lassen. „Sie müssen sich auch hinterfragen, ob sie motorisch in der Lage sind, das Fahrrad oder Pedelec zu balancieren, sich dabei umzudrehen und einhändig zu fahren.“ Es gebe häufig eine Diskrepanz zwischen dem Selbst- und Fremdbild. „Radfahrer meinen, dass sie das alles noch gut können, aber das ist meist in der Realität nicht so.“ Wichtig sei, sich ein Feedback von der Familie oder Freunden einzuholen. Senioren könnten auch Schwächen kompensieren, indem sie nicht bei Dunkelheit und Regen fahren oder gefährliche Strecken meiden. Sie sollten Radwege nutzen und nicht auf der Straße fahren, an Querungsstellen sollten sie absteigen und dort als Fußgänger unterwegs sein.

Die Unfallforschung der Versicherer empfiehlt in ihrer Studie, vorhandene Radwege auszubauen und neue Radwege anzulegen. Matthias Zimmermann stimmt prinzipiell zu, sie seien für das subjektive Sicherheitsgefühl wichtig und, um Menschen zum Radfahren zu motivieren. „Doch auch neue Radwege können typische Einbiegen-Kreuzen-Unfälle nicht verhindern, weil es ums Queren geht.“ Andere bauliche Veränderungen, etwa eine Mittelinsel oder Ampel, seien geeigneter. Das Problem an einer Verkehrsinsel ist, dass man die Straße verbreitern müsste. Dazu ist es häufig nötig, Land von Privatpersonen zu erwerben und den Naturschutz zu beachten.

Die Ideallösung sei eine Unterführung, eine Metallröhre reiche aus. „Das macht man aber höchstens bei einem eine Landstraße kreuzenden Radschnellweg oder dort, wo es sich ergibt.“ Eine andere Möglichkeit für gefährliche Stellen: das Tempolimit von hundert auf siebzig verringern. Dann muss es aber auch eingehalten werden.

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Erstellt:
1. Juni 2025, 10:40 Uhr

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