Gemeinsam gegen die Chaoten

Bei der jüngsten Gemeinderatssitzung in Sulzbach an der Murr versuchen Bürgermeister und Gemeinderäte, Lösungen gegen den Motorradlärm zu finden, der viele Bewohner stört. Was diese nutzen, wird sich wohl erst 2022 zeigen. Ende Oktober ist die Motorradsaison vorbei.

Um zu wissen, wo genau das Problem liegt, führen Polizei und Landratsamt regelmäßig Geschwindigkeits- und Motorradkontrollen durch. So wie im Juni auf der Fischbachtalabfahrt der B14. Archivfoto: J. Fiedler

© Jörg Fiedler

Um zu wissen, wo genau das Problem liegt, führen Polizei und Landratsamt regelmäßig Geschwindigkeits- und Motorradkontrollen durch. So wie im Juni auf der Fischbachtalabfahrt der B14. Archivfoto: J. Fiedler

Von Ute Gruber

SULZBACH AN DER MURR. Es kommt sicherlich eher selten vor, dass eine kurze Meldung aus der Backnanger Kreiszeitung tausendfach in den sozialen Medien geteilt wird. Noch dazu, wenn es sich um die Ankündigung der nächsten Gemeinderatssitzung einer 5000-Einwohner-Gemeinde handelt. Und doch: Ein Foto der Pressemitteilung zur Gemeinderatssitzung in Sulzbach an der Murr geisterte am vergangenen Dienstag durchs Internet. Anlass war der Tagesordnungspunkt Nummer vier: Zum Thema Motorradlärm und Verkehrssicherheit auf der B14 sollte über einen Antrag auf einseitige Sperrung dieser Straße für Motorradfahrer in Richtung Großerlach entschieden werden, gültig an Samstagen, Sonn- und Feiertagen während der Motorradsaison, also vom 1. April bis 31. Oktober. In Bikerkreisen läuteten die Alarmglocken.

Für die Gemeinde scheint dies das letzte Mittel, um einem jahrzehntealten Problem Herr zu werden, das sich nach Wahrnehmung der Bürgerschaft in der Coronakrise ins Unerträgliche gesteigert hat: der Missbrauch der kurvigen Steigung als Motorradrennstrecke und neuerdings das Biwakieren und lautstarke Posen mit Reifenverheizen auf dem asphaltierten Parkplatz am Sulzbacher Eck am Beginn dieser Steigung.

„Man versteht da tatsächlich das eigene Wort nicht mehr“

Für geschätzt ein Drittel der Sulzbacher Bevölkerung, die an den Talhängen links und rechts der Ausfallstraße in Richtung Schwäbisch Hall wohnen, ist anscheinend ein entspannter Aufenthalt auf der sonnigen Terrasse oder erholsame Gartenarbeit nicht mehr möglich. „Man versteht da tatsächlich das eigene Wort nicht mehr“, schildert ein Betroffener die Lage. „Manche drehen gerade am Ortsausgang extra auf, weil es da so fantastisch von den Talflanken zurückhallt.“ Das Klangerlebnis kommt nicht überall positiv an, zumal die kritisierten Fahrer offenbar besagte Strecke mehrfach rauf- und runterfahren, was außerhalb von Ortschaften wohl nicht verboten ist.

Dass das Thema jetzt derartig hochkocht, ist – wie so vieles – unter anderem der Pandemie geschuldet: Viele Einrichtungen waren im Lockdown geschlossen, auch der äußerst beliebte Motorradtreffpunkt „Helle Platte“, hoch über dem Weinsberger Tal. Einen willkommenen Ersatz fanden offenbar vor allem junge Biker aus der Stadt in wenigen Kilometern Entfernung auf dem sogenannten Sulzbacher Eck, dem Dreieck zwischen B14, Haller Straße und L1066. Hier ist sonntags der Netto-Parkplatz leer, die Kurvenstrecke in Sichtweite, die Versorgung durch eine Tankstelle gewährleistet und ein leer stehendes Verwaltungsgebäude bietet nicht nur Schutz vor Sonne und Regen, sondern auch eine Echokammer für Soundpräsentationen jeglicher Art.

Bürgermeister Dieter Zahn, für den das Thema Motorradlärm nach eigener Schätzung seit 20 Jahren immer wieder auf der Agenda steht, rekapituliert zunächst die bereits ergriffenen Gegenmaßnahmen: Es wurden zusammen mit dem Landratsamt ermahnende Tafeln aufgestellt, Rüttel-streifen auf die Fahrbahn aufgebracht, regelmäßig finden Polizeikontrollen statt. Die freiwillige Feuerwehr sperrt sonntags die Zufahrten zu den Parkplätzen ab. Man ist der Initiative „Motorradlärm“ beigetreten, um auf den Gesetzgeber einzuwirken, hat weitere Geschwindigkeitsbegrenzungen auf dem betroffenen Streckenabschnitt bewirkt, weist bei jeder Gelegenheit heimische Bundestagsabgeordnete auf das Problem hin, da vieles durch restriktive Regelungen auf Bundes- oder EU-Ebene nicht möglich sei.

Der Weg bis zur Genehmigung ist allerdings ein langer und steiniger

Viele Sulzbacher Bürger hatten ihren Frust ob der Wirkungslosigkeit der ergriffenen Maßnahmen an die Gemeinderäte herangetragen, aus deren Mitte daraufhin der Vorschlag zu besagter Sperrung kam. Ulrich Boitin hat eine Liste von 24 solcher Sperrungen zusammengestellt, die bereits in ähnlichen Landschaften wie dem Odenwald, dem Schwarzwald und der Alpenregion bestehen. Der Weg bis zur Genehmigung ist allerdings ein langer und steiniger. Alexander Hübner ist sogar selbst doppelt betroffen – einerseits als Anwohner, andererseits als Feuerwehrkommandant, der bei den schweren Unfällen hilft, die sich regelmäßig auf der Kurvenstrecke ereignen.

Nach Polizeiangaben waren bei den 34 aktenkundigen Unfällen in den vergangenen dreieinhalb Jahren 24 Motorräder beteiligt, es gab zwei Tote. Auf der ebenen Fortsetzung der B14 Richtung Oppenweiler gab es bei dreifachem Verkehrsaufkommen im selben Zeitraum nur rund zehn Unfälle. „Die Wirkung der Verkehrsüberwachung ist eine flüchtige: Dass kontrolliert wird, spricht sich dank Internet sofort herum, und sobald die Polizei weg ist, geht’s wieder los. Medienberichte kommen wohl bei den normalen Fahrern an, nicht aber bei Rasern“, sagt Hübner. Er möchte als Gemeinderat ein Zeichen für Sulzbachs Bürger setzen und freut sich, dass nicht nur viele Anwohner, sondern auch einige Motorradfahrer der Sitzung beiwohnen. Denn leider schädigen die wenigen rücksichtslosen Fahrer den Ruf auch aller vernünftigen. Dass gerade Letztere, die nach allgemeinem Konsens der Anwesenden die Mehrzahl ausmachen, durch die vorgesehene Maßnahme mit in Sippenhaft genommen werden, stößt nicht nur bei den anwesenden Bikern im Publikum auf Ablehnung, sondern auch bei Uwe Weber und Katja Erkert, die sich selbst als passionierte Motorradfahrer outen und eine Sperrung als „Kapitulation vor diesen Chaoten“ sehen. Man wünscht sich mehr Polizeipräsenz und fragt sich, wie man das Problem innerhalb der Motorradliebhabergemeinde lösen könnte: „Das gibt’s doch nicht, die verderben uns doch unser Hobby auch!“

Nachdem der Antrag mit – für Sulzbach ungewöhnlichen – zwei Gegenstimmen beschlossen wird, entflammen im Anschluss an die Sitzung vor der Tür heiße Diskussionen zwischen Anwohnern und den vier angereisten Bikern der Gruppe „RideFree – gegen Motorrad-Fahrverbote“: Ob der Lärm überhaupt schon mal objektiv gemessen wurde? Von emotionalem Lärmempfinden ist die Rede. Ob überhaupt schon alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft seien? Stationäre Blitzer? Lärmdisplays? „Nach der MV-Mot muss das nämlich erst einmal umgesetzt sein, bevor ein Verbot möglich ist“, hält der Biker das Regelwerk der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen in die Höhe. Trotz unterschiedlicher Ansichten sind beide Seiten um eine Lösung bemüht und so tauscht man zuletzt WhatsApp-Kontakte aus und verabredet sich fürs nächste Frühjahr, um die „Chaoten“ gemeinsam ins Gebet zu nehmen.

Zumindest für den Parkplatz hat sich inzwischen wohl eine Lösung ergeben, denn auf Mahnung des Bürgermeisters hat dessen Eigentümer von seinem Hausrecht Gebrauch gemacht und ein Schild angebracht, das den Aufenthalt auf die Zeit des Einkaufs beschränkt. Ruhe wird bald ohnehin einkehren, denn an Allerheiligen ist die Motorradsaison für die meisten zu Ende.

Zum Artikel

Erstellt:
29. Oktober 2021, 06:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Lesen Sie jetzt!
Maria Török ist eine von über 100 Pflegekräften im Staigacker. Sie kümmert sich liebevoll und gern um die Bewohner. Foto: Alexander Becher
Top

Stadt & Kreis

Personalnotstand setzt Pflegeheimen im Raum Backnang zu

Weil offene Stellen nur schwer besetzt werden können oder Pflegekräfte krankheitsbedingt ausfallen, kommt es in Pflegeeinrichtungen immer wieder zu Personalengpässen. Trotzdem muss die Versorgung weiterlaufen. Heime greifen deshalb auf Zeitarbeitsfirmen oder Springer zurück.

Stadt & Kreis

Osterräuchern des Angelsportvereins Althütte

Forellen im Rauch: Seit 30 Jahren räuchert Frank Wurst die unterschiedlichsten Fische. Beim Osterräuchern des Angelsportvereins Althütte sind es jedes Jahr einige Hundert Forellen. Wie es der 49-jährige Vereinsvorsitzende macht, erläutert er Schritt für Schritt.