Grün-Schwarz umgeht Schuldenbremse wegen Corona

dpa/lsw Stuttgart. Schlank, vollschlank oder dick? Am grün-schwarzen Nachtragsetat mit neuen Milliarden-Schulden scheiden sich die Geister. Kretschmann und Co. wollen wegen der unsicheren Corona-Entwicklung Vorsorge treffen. Doch der Schuldenberg des Landes wächst und wächst.

Andreas Schwarz, Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen im Landtag von Baden-Württemberg. Foto: Bernd Weißbrod/dpa

Andreas Schwarz, Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen im Landtag von Baden-Württemberg. Foto: Bernd Weißbrod/dpa

Sechs Wochen nach ihrem Start hat die neue grün-schwarze Koalition ihre erste wegweisende Entscheidung getroffen und einen Nachtragshaushalt mit neuen Schulden vorgelegt. Die Spitzen um Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) wollen sich damit vor allem für den unsicheren Verlauf der Corona-Krise wappnen und die Folgen abmildern. Der Etat hat ein Volumen von rund 2,47 Milliarden Euro, das Land plant mit neuen Krediten in Höhe von 1,2 Milliarden Euro. Dafür will Grün-Schwarz Ausnahmen bei der Schuldenbremse nutzen. Damit würde sich die Kreditaufnahme im Doppelhaushalt 2020/2021 auf 14,7 Milliarden Euro erhöhen. Die FDP im Landtag zeigte sich empört und bereitet eine Klage gegen den Nachtrag vor.

Kretschmann verteidigte die Pläne, schließlich müsse das Land auch coronabedingte Einnahmeausfälle der Kommunen ausgleichen. „Allein dieser Punkt erzwingt einen Nachtrag“, sagte er am Mittwoch. Er glaube nicht, dass eine Klage Aussicht auf Erfolg hätte. Die neuen Schulden hingen alle mit der Corona-Krise zusammen. „Wir haben nicht irgendeinen Zusammenhang konstruiert.“ Finanzminister Danyal Bayaz (Grüne) sagte: „Das ist ein schlanker Nachtrag, der sich auf das Wesentliche konzentriert: die Bekämpfung der Pandemie.“

Grünen-Fraktionschef Andreas Schwarz erklärte: „Weil die Pandemie noch nicht vorbei ist, müssen wir leider auch neue Schulden machen.“ Damit könne das Land reagieren, wenn die Pandemie noch länger dauere als erwartet. Sein CDU-Kollege Manuel Hagel sagte: „Es ist kein reiner Krisenhaushalt.“ Grün-Schwarz wolle das Land mit Investitionen fit machen für die Zeit nach Corona. Dennoch habe sich die Koalition streng am Bedarf orientiert. „Wir sind ja jetzt auch keine Christkindle“, sagte Hagel. Schwarz ergänzte: „Nice to have (schön zu haben) können sich alle abschminken.“

Wofür will die Koalition das Geld einsetzen?

Nach Zahlen des Finanzministeriums soll die Rücklage für Haushaltsrisiken mit 1,8 Milliarden Euro gefüllt werden. Die 1,2 Milliarden Euro Schulden sollen somit komplett in den Corona-Puffer fließen. Darüber hinaus wolle Grün-Schwarz überall dort helfen, „wo Corona zugeschlagen hat“, sagte Schwarz. Aus der Rücklage sollen der mögliche Weiterbetrieb von Impf- und Testzentren sowie denkbare weitere Hilfsprogramme finanziert werden, aber auch der Rettungsschirm für den Öffentlichen Nahverkehr.

Aus diesem Topf soll auch mehr Geld für schnelles Internet und die Förderung der grünen Wasserstofftechnologie als Ersatz für fossile Brennstoffe kommen. Beim Breitbandausbau will Grün-Schwarz eine Verpflichtungsermächtigung abgeben, damit beim Bund die Anträge gestellt werden können, auch wenn das Geld erst im kommenden Jahr fließt. Hier will das Land über 700 Millionen Euro zuschießen.

Die Ressorts meldeten für 115 Millionen Euro Ausgabenwünsche an, die größtenteils auch mit Corona zu tun haben. Die Koalition will Lernbrücken für Kinder und Jugendliche finanzieren, die im Lockdown nicht mitgekommen sind. Darüber hinaus sollen 125 Lehrerstellen erhalten bleiben, die eigentlich wegfallen sollten. Das Land will zudem das Bundesnachhilfeprogramm „Rückenwind“ kofinanzieren.

Daneben will die Regierung Hochschulen, Kunst und Kultur sowie den Einzelhandel stützen. Zudem soll es Geld für die Tourismusbranche geben und die Digitalisierungsprämie für Mittelständler soll weiter fließen. Genaue Zahlen gab es hier zunächst noch nicht. Das neue Bauressort und die weiteren Staatssekretäre sollen über Einsparungen der anderen Ministerien in Höhe von 10 Millionen Euro finanziert werden.

Schulden aufnehmen trotz Schuldenbremse - wie geht das?

Die Schuldenbremse in der Landesverfassung schließt neue Kredite nicht generell aus, es gibt aber strenge Kriterien. Im Fall einer Naturkatastrophe oder bei einer außergewöhnlichen Notsituation kann das Land neue Schulden aufnehmen. Grün-Schwarz will über diesen Weg 950 Millionen Euro am Kreditmarkt holen, muss aber einen Tilgungsplan aufstellen. Die Schuldenbremse erlaubt außerdem auf konjunkturelle Schwankungen zu reagieren. Wegen des coronabedingten Abschwungs kann die Regierung nochmal 255 Millionen Euro Schulden aufnehmen. Jedoch müssen diese Kredite schnell wieder zurückgeführt werden, wenn die Konjunktur wieder anzieht.

Woher kommt der Rest des Geldes für den Nachtrag?

Da wären zum einen die Mehreinnahmen in Höhe von 657 Millionen Euro in diesem Jahr, die jüngst bei der Steuerschätzung errechnet wurden. Zudem soll der zuletzt gesperrte Fonds „Zukunftsland BW“ für andere Zwecke genutzt werden können - hier sind noch knapp 600 Millionen Euro drin.

Wie ist nun der weitere Fahrplan?

Beschließen muss den Haushalt der Landtag. Erste Lesung im Parlament soll am 14. Juli sein. Kurz vor der parlamentarischen Sommerpause am 22. Juli soll der Nachtrag dann unter Dach und Fach gebracht werden.

Wie sind die Reaktionen auf die neuen Schulden?

Die FDP ist empört und bereitet eine Verfassungsklage vor. „Nach den Rekordschulden im vergangenen Jahr bedient sich die grün-schwarze Koalition nun weiter hemmungslos bei den Ausnahmeregeln der Schuldenbremse“, sagte FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke. Steuermehreinnahmen, Rücklagen und ungenutzte Kreditermächtigungen von über 18 Milliarden Euro machten neue Schulden unnötig. Zudem entspanne sich die Corona-Lage täglich.

SPD-Chef Andreas Stoch sprach von einem „kraft- und ideenlosen Aufschlag“ der Koalition. „Sinnlos sind mickrige 30 Euro pro Schüler zum Aufholen der Lernrückstände aus über einem Jahr Wechsel- und Fernunterricht.“ Der Betrag sei „geradezu lächerlich“.

Der Bund der Steuerzahler vermisst bei Grün-Schwarz eine Priorisierung und Sparvorschläge. Ohne konkrete Aussagen hierzu erscheine das Bekenntnis zur Einhaltung der Schuldenbremse „unglaubwürdig“, sagte Zenon Bilaniuk, Vorsitzender des Bundes der Steuerzahler Baden-Württemberg.

Wie steht es um die Finanzlage des Landes insgesamt?

Die Corona-Krise hat ein gewaltiges Loch in die Staatskassen gerissen und die Tilgung der aufgenommenen Milliarden-Schulden wird das Land noch Jahrzehnte beschäftigen. „Das wird in den nächsten Jahren schon sportlich, wenn das zurückzuzahlen ist“, sagte Schwarz. Hinzu kommen die Deckungslücken der kommenden Jahre: 2022 fehlen allein über drei Milliarden Euro. Ende 2020 hatte die alte grün-schwarze Regierung neue Schulden in Höhe von 13,5 Milliarden Euro aufgenommen. Dadurch wuchs der Schuldenberg auf 58,5 Milliarden Euro an. Wenn nun 1,2 Milliarden Euro hinzukommen, liegt der Wert nur noch knapp unter 60 Milliarden Euro. Bisher ist vereinbart, dass das Land 2024 in die Tilgung der Corona-Schulden einsteigt, die dann 25 Jahre dauern soll.

© dpa-infocom, dpa:210623-99-107827/5

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Erstellt:
23. Juni 2021, 10:12 Uhr

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