Standortvergleich

Handwerker, Steuern, Rente – macht es die Schweiz besser als wir?

Deutschland bekommt eine neue Regierung. Endlich. Denn es hat sich viel Reformbedarf aufgestaut. Manches könnte Berlin dabei vom Nachbarn im Süden lernen. Denn dem Alpenland geht es trotz widriger Lage hervorragend.

Die   Schweiz ist trotz hoher Kosten international konkurrenzfähig.

© IMAGO/Pond5 Images

Die Schweiz ist trotz hoher Kosten international konkurrenzfähig.

Von Michael Weißenborn

Eine höhere Produktivität, eine bessere Infrastruktur und ein funktionierendes Rentensystem. Es gäbe so einiges, was sich Deutschland vom eidgenössischen Modell abschauen könnte. Hier ein paar Beispiele.

Keine Überakademisierung

Das Schweizer Bildungssystem steht im Vergleich zum deutschen hervorragend da. Im aktuellen Vergleichstest Pisa hält das Land in Mathematik mit den besten Ländern Asiens mit und liegt auch beim Lesen und in den Naturwissenschaften vor Deutschland. Besonders aber sticht hervor, dass die Schweiz nicht unter der Überakademisierung leidet. In Deutschland dagegen kommen auf fünf Studierende rund zwei Lehrlinge. Rund 35 Prozent der gemeldeten Ausbildungsstellen blieben zuletzt unbesetzt. Daher fehlen im Handwerk inzwischen mehr als eine Viertelmillion Fachkräfte.

Das Schweizer Modell basiert indes auf einer starken Berufsbildung und einer selektiven, aber guten akademischen Ausbildung. In der Deutsch-Schweiz absolvieren 80 Prozent eines Jahrgangs eine Berufsausbildung, und nur 20 Prozent gehen ins Gymnasium. „Man muss sich fragen, ob es sinnvoll ist, wenn 50 Prozent eines Jahrgangs aufs Gymnasium gehen“, sagt die Lernforscherin Elsbeth Stern von der ETH Zürich zu Deutschland. Die Schweiz habe das Gymnasium nicht zur Regelschule gemacht und die anderen Bildungswege damit abgewertet. „Ich habe Professorenkollegen, deren Kinder eine Berufsausbildung absolvieren“, so Stern. Das habe auch keinen sozialen Makel.

Die Idee, dass eine Gesellschaft gerechter werde, wenn die Kinder höherwertige Bildungsabschlüsse erreichen als ihre Eltern, hält Stern für „totgelaufen“. Für ein Bildungssystem sei es besser, wenn man dort einsteige, wo man realistische Erfolgschancen habe. Da sei die Schweiz im Vorteil. Ein Nachteil: In bestimmten akademischen Disziplinen, etwa bei den Ärzten, fehlt der Schweiz der eigene Nachwuchs.

Geringere Arbeitskosten

Anfang des Jahres sorgte der schwäbische Sägenhersteller Stihl für Schlagzeilen: Die Pläne für ein neues Werk in Ludwigsburg sind aus Kostengründen auf Eis. Aufsichtsratschef Nikolas Stihl argumentierte, dass selbst ein Standort in der Schweiz günstiger wäre als in Deutschland. Ausgerechnet im Hochlohnland Schweiz? Zwar sind dort die Monatseinkommen deutlich höher. Die Arbeitskosten fallen trotzdem günstiger aus. Eine Erklärung liefern die höhere Wochenarbeitszeit und deutlich weniger Urlaub. Dadurch ist die Produktivität höher. In ein ähnliches Horn stieß unlängst – begleitet von viel Kritik – auch Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne). „Wir müssen mehr arbeiten“, sagte er mit Blick auf die Tatsache, dass Deutschland unter allen Industrieländern die niedrigste Jahresarbeitszeit habe.

Gilt etwa in der deutschen Metall- und Elektroindustrie im Flächentarif die 35-Stunden-Woche, können es in der Schweiz bis zu zehn Wochenstunden mehr sein. Bei Ärzten im Krankenhaus sind 50 Stunden die Regel. 30 Urlaubstage im Jahr und mehr, wie in Deutschland üblich, bekommt in der Schweiz so gut wie niemand. Dort sind es eher 20 Tage. Zudem fehlt in der Schweiz ein Kündigungsschutz wie in Deutschland. Der Arbeitskräftemangel auch dort macht die Jobs aber recht sicher.

Dafür sind die Sätze für die Lohn- und Einkommenssteuer deutlich niedriger als in Deutschland. Davon profitieren die Arbeitnehmer, die mehr Netto vom Brutto behalten, aber auch die Arbeitgeber, die weniger Lohnsteuer an den Staat abführen müssen. Stichwort: geringere Lohnnebenkosten. Außerdem werden in der Schweiz auch weniger Unternehmenssteuern fällig. Es gibt Kantone, die so gut wie keine Unternehmenssteuer verlangen. Im Kanton Zug etwa liegen die Steuersätze für Privatpersonen bei 22,2 Prozent und für Betriebsgewinne bei nur 11,8 Prozent inklusive Bundesabgaben.

Intakte Infrastruktur

Deutschland war einmal ein Land, in dem die Züge pünktlich fuhren. Überhaupt hatte das Land eine funktionierende öffentliche Infrastruktur. Früher! Verspätungen und Zugausfälle sind bei der Deutschen Bahn (DB) heute an der Tagesordnung. In der Schweiz dagegen sind mehr als 90 Prozent der Fernzüge pünktlich. Bei all den Unterschieden zwischen DB und SBB (Schweizerische Bundesbahnen) – das deutsche Schienensystem ist sieben Mal größer und mit seinen vielen Knoten viel komplexer – der Grund für den Unterschied ist: Die Schweizer Gleise sind top in Schuss, die deutschen dagegen marode. Dabei kopierten die Schweizer in den 90-er Jahren die deutsche Bahnreform, aber sie blieben gemeinwohlorientiert. Während die Schweiz kontinuierlich investierte, verrottete das deutsche Schienennetz.

Die Schweizer investieren pro Kopf viermal so viel in ihre Bahn wie die Deutschen. Das hat sich die DB zuletzt bei der SBB abgeschaut: Sie hat so viel Geld für Investitionen wie nie. Aber was in den Augen von Schweizer Experten fehlt: eine klare politische Strategie und Steuerung, die strikt auf die Daseinsvorsorge und die Bedürfnisse der Bürger ausgerichtet ist. Dasselbe gilt für Straßen, Brücken oder Kanäle, die in der Schweiz auch permanent instandgesetzt werden. „Schweizer schimpfen oft über die vielen Baustellen im Land, bis sie mal die marode Infrastruktur in Deutschland gesehen haben“, sagt ein Deutscher, der in Zürich lebt.

Besseres Rentensystem

Der SPD-Chef Lars Klingbeil hat vor einigen Tagen erst für eine „echte Reform“ des Rentensystems auch eine Erweiterung des Betragszahler-Kreises ins Spiel gebracht. Das deutsche Rentensystem ist nämlich wegen des demografischen Wandels nicht nachhaltig finanziert. Ob er bei seinen Reformideen an das besser funktionierende Schweizer Rentensystem dachte? Dort zahlen nämlich alle – auch Beamte und Selbstständige – bis zum Spitzenmanager ein. „Eine maximale Beitragsbemessungsgrenze wie in Deutschland gibt es bei der Solidarrente AHV nicht“, berichtet der deutscher Manager in Zürich mit Blick auf die erste Säule des Schweizer Rentensystems. Darüber hinaus sind die Mitarbeiter vieler Unternehmen über eine Betriebsrente abgesichert. Und es gibt eine steuerfreie Entgeltumwandlung in staatlich regulierte Fonds.

In der Schweiz zähle stärker die Eigenverantwortung, meint der Deutsche aus Zürich. In Deutschland entscheide oft der Staat. Beispiel Gesundheitsversorgung: Die Schweiz hat eine obligatorische private Grundversicherung. Diese gilt als „solidarisch“, weil jeder zu gleichen Preisen die gleichen Leistungen erhält. Ärmeren zahlt der Staat einen Zuschuss, mit dem Selbstbehalt oder dem Verzicht auf freie Arztwahl kann der Beschäftigte die monatliche Prämie senken. Darüber hinaus kann sich jeder noch privat zusätzlich versichern. Für die Mittelschicht ist der Mix sehr teuer. Das Schweizer Gesundheitssystem gilt bei ähnlich hohen Ausgaben wie in Deutschland – aber als effizienter.

Beispiel Kinderbetreuung: Wer in der Schweiz einen Kindergartenplatz braucht, muss dafür in der Regel privat aufkommen oder eine Betreuung für die Kinder bezahlen. Und das ist deutlich teurer als in Deutschland. Auch beim Mutterschutz sind Frauen gegenüber den Regelungen in Deutschland schlechter gestellt. Wer im Job bleiben will, muss bis kurz vor der Geburt und danach wieder voll arbeiten.

Wirtschaftsfreundlichere Bürokratie

Deutsche Top-Manager renommierter Unternehmen aus Baden-Württemberg, die in der Schweiz produzieren, loben die wirtschaftsfreundlichen Schweizer Behörden. Die Haltung sei „lösungsorientiert“, meint einer. „Während es in Deutschland heißt, das geht nicht, heißt es in der Schweiz: Das haben wir noch nicht gemacht, aber wir probieren es“, erzählt ein anderer. Als Beispiel erwähnt Letzterer seine Erfahrungen, wenn es in Ausnahmefällen darum geht, Sonntagsarbeit zu beantragen: In Deutschland bräuchte es dafür Wochen Vorlauf – mit ungewissem Ausgang. „In der Schweiz ist das ein Anruf.“ Auch in der Schweizer Finanzverwaltung werde „viel unternehmerischer gedacht“, berichtet ein anderer Insider.

Die Äußerungen zeigen, dass es mit einem marktorientierten und bürokratieärmeren Ansatz möglich ist, attraktive Standortbedingungen zu bieten. Dabei scheinen kleinere Länder in Europa – nicht nur die Schweiz – gegenüber globalen Herausforderungen anpassungsfähiger als größere.

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Erstellt:
2. Mai 2025, 06:10 Uhr

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