Heute verarbeitet er Forellen statt Daten

Mutmacher-Geschichten: Diplom-Informatiker Jochen Rieker hat vor rund 20 Jahren den Bürostuhl gegen Kescher und Wathose, das Angestelltenverhältnis gegen die Selbstständigkeit getauscht. „Ich habe es noch nie bereut“, sagt er über seinen Jobwechsel.

Das Arbeiten in der Natur wiegt für Jochen Rieker alle Nachteile auf, die die landwirtschaftliche Selbstständigkeit mit sich bringt. Wenn er auf seiner Teichanlage in Rudersberg ist, geht ihm das Herz auf. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Das Arbeiten in der Natur wiegt für Jochen Rieker alle Nachteile auf, die die landwirtschaftliche Selbstständigkeit mit sich bringt. Wenn er auf seiner Teichanlage in Rudersberg ist, geht ihm das Herz auf. Foto: A. Becher

Von Nicola Scharpf

BACKNANG/RUDERSBERG. Es ist der oberste der fünf am Nordhang gelegenen Fischteiche, der es Jochen Rieker besonders angetan hat – damals, Ende der 1990er-Jahre, als Rieker mit seiner Familie von Stuttgart in den Rudersberger Ortsteil Zumhof zieht und beim Spazierenlaufen vom Waldweg aus immer wieder diesen von Quellwasser gespeisten Naturteich sieht. Eingebettet zwischen hohen Bäumen liegt der Teich in waldiger Umgebung, dunkel schimmert sein Wasser, das Licht fällt gedämpft durchs Grün der Blätter. „Vom Wasser fühle ich mich angezogen. Wenn es im Wald ist, ist es gleich noch schöner“, sagt Jochen Rieker. Als er erfährt, dass das Grundstück mit den Fischteichen zum Verkauf steht, erwirbt er es. Das war 1998. „Ich habe damals nichts mit Fischen zu tun gehabt. Ich wusste nicht, was ich mit dem Grundstück anfangen soll.“ Inzwischen hat sich das geändert. Es ist nun 20 Jahre her, dass Rieker seinen Job als EDVler aufgegeben und sich der Aufzucht von Forellen sowie deren Direktvermarktung zugewandt hat. Er hat sich vom Angestelltenverhältnis abgewandt zugunsten einer landwirtschaftlichen Selbstständigkeit. Und er sagt: „Ich habe es noch gar nie bereut. Ich komme immer gerne hierher zur Teichanlage. Da geht mir das Herz auf.“

Dabei hat Rieker in dem Beruf, den er gelernt hat, gern gearbeitet. 1987 beginnt er an der Berufsakademie mit dem dualen Studiengang der Informatik und arbeitet in den Praxisphasen für die Fellbacher Firma Herion. In der technischwissenschaftlichen Datenverarbeitung des Unternehmens, das in der Steuerungstechnik und Hydraulik tätig ist, hat er nach der Ausbildung „einen guten Platz gehabt“, an Großrechnern programmiert. Im Anschluss daran findet er in der individuellen Datenverarbeitung eine kreative Spielwiese, auf der er sich ausprobieren kann. Ab 1995 hat er nebenher ein selbstständiges Standbein und baut Computer, später dann schwenkt er auf die Produktion von Werbeträgern, beispielsweise CDs, in Kleinserien um. Als die Firma Herion verkauft wird, sich die Personalführung ändert, Personal abgebaut wird, versucht Rieker, als Quereinsteiger in der Forellenaufzucht und -vermarktung Fuß zu fassen. Er hat Erfolg mit dem Direktvertrieb.

Es gibt Punkte, an denen er sich fragt: „Mache ich das noch?“

Vom Sohn des Vorbesitzers, der die Teichanlage im Rentenalter als Hobby betrieben hat, lernt er das Schlachten der Forellen. Viel Wissen eignet er sich im Selbststudium im Internet an. Der Betrieb, bei dem er seine Fische kauft, steht mit Rat und Tipps zur Seite. „Und dann habe ich gar nichts mehr mit PCs gemacht.“ 2001 tauscht er endgültig den Bürostuhl gegen den Kescher und die Wathose. „Ich habe das nicht gelenkt oder forciert. Es ist halt so geworden.“ Das Berufsleben im Angestelltenverhältnis ist sorgenfreier, erinnert sich der 56-Jährige. „Ich fühle mich jetzt aber viel wohler, obwohl ich viel mehr schaffe, wenn ich die Stundenzahl zusammenzählen würde. Es macht Spaß hier draußen. Es geht nicht immer, aber wenn es geht, sollst du das machen, was dir Spaß macht. Weil es dann bloß halb Arbeit ist.“

Rieker und seine Lebensgefährtin wohnen in Backnang. Um Vorbereitungen für die Wochenmärkte zu treffen, auf denen sie ihren Fisch verkaufen, stehen sie jeden Samstag um drei Uhr auf. „Aber das ist nicht schlimm.“ Jeden Freitag schlachten die beiden von morgens 8 Uhr ohne Pause bis nachmittags um 15 Uhr. Im Winter, wenn es wirklich eisig an der Teichanlage ist, friert einem dabei schon mal der Schurz am Tisch fest. Bei Stromausfall, wenn der FI-Schalter auslöst, ertönt bei Rieker auf dem Handy dank SMS-Steuerung ein schriller Alarmton. Dann hat der Fischvermarkter 45 Minuten Zeit, um die Systeme, die der Umwälzung des Wassers in den Teichen und damit der Sauerstoffversorgung der Fische dienen, wieder in Gang zu bringen. „Das ist erst einmal passiert, als ich hier auf der Anlage war. Sonst immer mitten in der Nacht. Einmal war ich auch auf dem Wochenmarkt, als der Alarm kam. Ich hätte es nicht in 45 Minuten nach Rudersberg geschafft. Da ist mein Bruder eingesprungen.“

Für Rieker wiegt das Arbeiten in der freien Natur alle Nachteile der landwirtschaftlichen, mitunter beschwerlichen Selbstständigkeit auf. Ihm gefällt, dass immer etwas zu tun ist auf seinem Forellenhof, dass immer findige Ideen gefragt sind. Vom vielen Tragen schwerer Wassereimer und -wannen hat er beispielsweise Knieprobleme bekommen. Also hat er sich ein System aus Kunststoffrohren getüftelt und auf dem Hang verlegt.

Neue, winzige Forellen, die er von einem Betrieb am Kocherursprung bezieht, leert er aus ihrer Wanne in einen Trichter am Rohranfang und schon sausen sie wie in einer Wasserrutsche in ihren Teich. Für die Teiche, über die Netze gegen die Fischreiher gespannt sind, hat er Videoüberwachung installiert. „Ich will wissen, wo die Waschbären reingehen, damit ich Abhilfe schaffen kann.“ Sein aktuelles Projekt, das sich in der Schlussphase befindet, ist ein Neubau mit Ladebereich für die Verkaufsfahrzeuge, Wirtschaftstrakt für das Schlachten, Kühlen und Verarbeiten der Fische sowie Raum für den Verkauf ab Hof. Es steckt viel Eigenleistung im Gebäude. Momentan verlegt Rieker Fliesen im Verkaufsraum. „Es ist gut, aus allen Bereichen etwas zu können.“ Auch an einen Biergarten am obersten Teich hat er schon gedacht. „Aber will ich das? Einen Fleck kann ich auch für mich bewahren.“

Der Neubau, der wegen gestiegener behördlicher Anforderungen und Vorschriften notwendig ist, oder auch ein Rückschlag vor Jahren, als zwei Tonnen Fisch tot im Teich lagen, weil ein Unbefugter den Wasserbelüfter vom Stromnetz getrennt hatte: „Es gibt immer wieder Punkte, an denen ich mich frage: Mache ich das noch? Soll ich noch so einen Mordsneubau hinstellen?“ Er hat sich immer mit „Ja“ geantwortet. „Anderenfalls müsste ich wieder schaffen gehen.“

In der Serie Mutmacher-Geschichten berichten wir über Menschen, die ihr Glück gefunden haben, die schwierige Situationen gemeistert und ihre Träume verwirklicht haben. Damit setzen wir einen Gegenpol zu all den negativen Nachrichten, die jeden Tag in der Zeitung stehen.

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Erstellt:
8. Mai 2021, 11:30 Uhr

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