Hagelabwehr: Impfung für Gewitterwolken

Seit mehr als 40 Jahren organisiert das Landratsamt im Rems-Murr-Kreis eine Hagelabwehr mit Flugzeugen. Obwohl die Methode umstritten ist, sind die Verantwortlichen von der Wirksamkeit überzeugt. Bis Herbst stehen am Stuttgarter Flughafen zwei Maschinen für den Einsatz bereit, um Gewitterwolken zu „impfen“, wenn es nötig ist.

Frank Kasparek ist einer der Piloten, die bei einem aufziehenden Gewitter losfliegen. In der silbernen Kartusche befindet sich eine mit Silberjodid versetzte Acetonlösung. Diese wird im Flug verbrannt, damit das Silberjodid in die Wolken gelangt. Foto: Kornelius Fritz

Frank Kasparek ist einer der Piloten, die bei einem aufziehenden Gewitter losfliegen. In der silbernen Kartusche befindet sich eine mit Silberjodid versetzte Acetonlösung. Diese wird im Flug verbrannt, damit das Silberjodid in die Wolken gelangt. Foto: Kornelius Fritz

Von Kornelius Fritz

Rems-Murr. Für den heutigen Mittwoch warnt der Deutsche Wetterdienst in Baden-Württemberg vor örtlichen Gewittern mit Starkregen und Hagel. Ob diese auch den Rems-Murr-Kreis treffen werden, ist noch unklar. Deshalb wird der Meteorologe Malte Neuper heute ganz genau auf seine Radarbilder schauen. Dort kann er in Echtzeit verfolgen, wo sich eine Gewitterfront aufbaut. Sieht der Experte vom Karlsruher Institut für Technologie die Gefahr, dass es in der Region hageln könnte, dann ruft er am Stuttgarter Flughafen an. Dort warten bei entsprechender Wetterprognose bereits zwei Piloten mit startbereiten Flugzeugen. Sobald Neuper das „Go“ gibt, steigen sie mit ihren zweimotorigen Propellermaschinen auf, um die Gewitterwolken mit Silberjodid zu „impfen“ (siehe Infotext). So sollen schwere Hagelereignisse mit Schäden in Millionenhöhe verhindert werden.

Der Rems-Murr-Kreis gehört zu den Vorreitern bei dieser Form der Hagelabwehr. Bereits seit 44 Jahren organisiert das Landratsamt das Präventionsangebot und finanziert es auch in Teilen. Aber auch Weingärtner, Obstbauern und Unternehmen beteiligen sich an den Kosten von rund 360000 Euro pro Jahr. Zuletzt sind allerdings einige Geldgeber abgesprungen. „Wir hoffen deshalb, noch weitere Finanzierungspartner zu finden“, sagt Gerd Holzwarth, Dezernent im Landratsamt, und fügt hinzu: „Das Projekt lebt von der Solidarität.“ Denn es profitieren auch die davon, die nichts bezahlen.

Hagelsturm in Reutlingen kostet Versicherung 250 Millionen Euro

Die Wirksamkeit der Hagelabwehr ist unter Experten umstritten und Michael Stuber, Leiter des Landwirtschaftsamts, räumt ein, dass ein wissenschaftlicher Beweis schwierig ist: „Dafür bräuchte man zwei exakt gleiche Gewitterwolken und die gibt es in der Natur nicht.“ Trotzdem ist man im Waiblinger Landratsamt davon überzeugt, dass die Methode funktioniert. „Wenn wir mit älteren Weingärtnern sprechen, bestätigen sie uns, dass es deutlich weniger Hagelschäden gibt als früher“, erklärt Stuber. Zwar biete die „Impfung“ keinen 100-prozentigen Schutz, aber die Intensität des Hagels sei weniger heftig als anderswo.

Auch bei der Württembergischen Gemeinde-Versicherung (WGV) sieht man das inzwischen so. Vorstandschef Klaus Brachmann erinnert sich noch mit Schrecken an den 28. Juli 2013, als ein Hagelsturm im Raum Reutlingen tobte und die WGV anschließend Schäden von rund 250 Millionen Euro begleichen musste. Im Vergleich dazu sind die 450000 Euro pro Jahr, die der Versicherer heute für die Hagelflieger bezahlt, fast schon Kleingeld.

Die Hagelabwehr könnte wegen des Klimawandels noch wichtiger werden

Neben ihrer finanziellen Beteiligung an den Einsätzen im Rems-Murr-Kreis hat die WGV mittlerweile auch zwei eigene Flugzeuge, die in ganz Württemberg unterwegs sind. Frank Folkert, Abteilungsleiter Schadensmanagement, ist davon überzeugt, dass sich diese Investition lohnt. Schließlich gehen Experten aufgrund des Klimawandels davon aus, dass die Häufigkeit von Unwettern in den kommenden Jahren noch zunehmen wird. Trotzdem beteiligen sich zu Folkerts Bedauern bislang noch keine anderen Versicherungen an dem Projekt.

Und wer sind die mutigen Piloten, die bewusst auf ein Unwetter zufliegen, obwohl sie doch eigentlich mal gelernt haben, das Gegenteil zu tun? In Stuttgart ist das zum Beispiel der selbstständige Flugunternehmer Frank Kasparek. „Natürlich geht es bei so einem Einsatz auch mal turbulenter zur Sache“, erzählt der erfahrene Pilot. Von einem Kamikaze-Einsatz könne aber keine Rede sein: „Wir fliegen ja nicht in das Gewitter hinein, sondern suchen den Aufwindbereich unterhalb der Wolke.“ Im Übrigen stehe er per Funk in ständiger Verbindung mit einem Meteorologen und könne den Einsatz auch jederzeit abbrechen, wenn es zu heikel werden sollte.

Website Weitere Informationen findet man unter www.hagelabwehr.de.
So funktioniert die Hagelabwehr

„Impfung“ Die Piloten der Hagelabwehr fliegen bei einem aufziehenden Gewitter mit ihren Kleinflugzeugen unter die Wolken. Dort aktivieren sie zwei Rauchgasgeneratoren, die an den Flügeln angebracht sind. In diesen wird eine Silberjodidlösung verbrannt. Die Partikel, die dabei freigesetzt werden, werden durch den Aufwind in die Gewitterwolken hineingesaugt.

Wirkung Dort wirken die Silberjodidpartikel als sogenannte Eiskeime, das heißt: Wassertröpfchen setzen sich an ihnen fest. Statt großer Hagelkörner bilden sich dadurch viele kleinere Graupelkörner, die weniger Schaden anrichten oder im besten Fall bereits geschmolzen sind, bevor sie die Erde erreichen. Das Risiko von schweren Hagelschäden wird dadurch reduziert.

Einsätze Die Hagelflieger des Rems-Murr-Kreises sind bereits seit 1980 im Einsatz. Sie decken ein Gebiet von 2700 Quadratkilometern ab. Neben dem Rems-Murr-Kreis gehören dazu auch die Stadt Stuttgart, der Landkreis Ludwigsburg und Teile der Landkreise Heilbronn, Esslingen und Böblingen. Im Jahr 2023 wurden insgesamt 77 Einsätze zur Hagelabwehr geflogen.

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Erstellt:
15. Mai 2024, 06:00 Uhr

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