In der Gruppe fällt der Alkoholverzicht leichter

An diesem Samstag beginnt die bundesweite Aktionswoche Alkohol. 2022 steht dabei die Suchtselbsthilfe im Fokus. Auch die Caritas sowie die Suchtselbsthilfegruppen in Backnang beteiligen sich an der Präventionsmaßnahme, die sich an Betroffene und Angehörige richtet.

In Selbsthilfegruppen unterstützen Alkoholabhängige einander dabei, „Nein“ zu ihrer Sucht zu sagen. Symbolbild: Adobe Stock/Andrey Cherkasov

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In Selbsthilfegruppen unterstützen Alkoholabhängige einander dabei, „Nein“ zu ihrer Sucht zu sagen. Symbolbild: Adobe Stock/Andrey Cherkasov

Von Melanie Maier

Backnang. Mit ihrer Alkoholsucht fühlte Ursula Jaschinski sich einsam. „Verloren“, sagt sie. „Wenn man stark abhängig ist, hat man am Ende nur noch die Flasche als Freund“, erklärt die 77-jährige Rentnerin aus Backnang. In die Sucht abzurutschen, das ging schnell. Eine Scheidung, ein Glas Rotwein zur Beruhigung der Nerven am Abend. Bald wurden mehrere daraus. Ihre Töchter drohten, den Kontakt abzubrechen, falls sie nichts an ihrem Verhalten ändern sollte. Es habe gedauert, bis sie vor sich selbst eingestehen konnte, süchtig zu sein, sagt Jaschinski: „Ich dachte lange, ich bin halt so ein bisschen abhängig, mehr nicht.“

„Das ist der schwerste und wichtigste Schritt – sich selbst in die Augen zu schauen und zuzugeben: ‚Ich habe ein Problem‘“, stimmt Ute Reiser von der Suchtberatung der Caritas in Backnang zu. „Wir sagen, es dauert so 10 bis 20 Jahre, bis die Leute zu uns in die Beratung kommen. Körperlich und psychisch macht sich die Abhängigkeit oft lange nicht bemerkbar.“ Dazu kommt: In unserer Gesellschaft gilt es als normal, Alkohol zu trinken. Es fällt eher derjenige auf, der nicht trinkt, als die, die zum Glas greift. Auch deshalb fällt es so schwer, ohne Hilfe von außen den Konsum einzustellen.

Ursula Jaschinksi ist mittlerweile schon seit 18 Jahren beim Kreuzbund, einer Selbsthilfegruppe für Suchtkranke und Angehörige, deren Backnanger Stadtverband sie noch vor ein paar Jahren selbst leitete. In die Gruppe zu kommen war zur Hochzeit ihrer Sucht eine Erleichterung. „Mir ist bewusst geworden: Die haben alle dasselbe Problem wie ich. Das hat mir in gewisser Weise Hoffnung gegeben: Wenn die es schaffen, nüchtern zu bleiben, kann ich das vielleicht auch.“

Der Rückhalt in der Gruppe gab ihr nicht nur die Kraft, auf den Alkohol zu verzichten, sondern auch, ihrem Arbeitgeber mitzuteilen, dass sie aufgrund ihrer Suchterkrankung für vier Wochen in die Entzugsklinik geht. „Es war toll, so eine starke Unterstützung zu haben“, erinnert sich Jaschinski. „Die Leute waren alle so herzlich – ich hab mich in der Gruppe unheimlich wohl und gut gefühlt.“ Geholfen hat ihr, dass sie sich den anderen nicht erklären musste, dass sie sich mit ihnen austauschen und auch um Rat fragen konnte, ohne dabei Angst haben zu müssen, verurteilt zu werden.

Auch für Josef Jochem war die Selbsthilfegruppe ein wichtiger Baustein auf dem Weg aus der Alkoholsucht. Er leitet eine Gruppe beim Kreuzbund. „Die Selbsthilfegruppe ist wie eine Heimat für Suchtkranke: Hier wirst du verstanden, hier kommst du an“, betont er. „Viele meiner Teilnehmer sagen mir: Durch das Erzählen in der Gruppe löst sich ihre Anspannung auf. Sie laden ihren Akku auf.“ An manchen Tagen falle das Wort „Alkohol“ nicht einmal, berichtet Jochem. Dann werde eher über alltägliche Probleme gesprochen – über das, was die Teilnehmenden eben gerade beschäftige. Dass die Treffen regelmäßig stattfänden, gebe ihnen Halt im Alltag.

Nach Ansicht von Ute Reiser von der Caritas ist die Teilnahme an den Treffen einer Selbsthilfegruppe enorm wichtig für Suchtkranke. „Studien zufolge bleiben 80 Prozent der Süchtigen trocken, die sich in der Selbsthilfe anbinden.“ Bei denjenigen, die auf sich allein gestellt versuchen, dem Alkohol fern zu bleiben, komme es dagegen öfter zum Rückfall. „Deshalb versuchen wir, die Leute davon zu überzeugen, sich schon während der Beratung einer Selbsthilfegruppe anzuschließen.“ Je früher, desto besser, findet sie, damit der Übergang nach der Therapie nahtlos gelingen kann.

Ein weiterer Grund, der dafür spricht, ist Ute Reiser zufolge, dass man durch den Gruppenleiter oder die Gruppenleiterin stets einen Ansprechpartner hat. „Wir bei der Caritas sind von 9 bis 12 und von 14 bis 16.30 Uhr erreichbar. Die Krise kommt aber meistens nachts um 3 Uhr“, sagt sie. Allein zu wissen, dass es im Notfall einen „Schutzengel“ gebe, den man jederzeit anrufen könne, wenn es darauf ankommt, helfe.

Der Einstieg in eine Selbsthilfegruppe ist denkbar einfach. Es gibt sie in so gut wie jeder Stadt und in vielen kleineren Orten. Wer mitmachen möchte, muss weder einen Antrag ausfüllen noch eine Bewilligung von der Krankenkasse einholen – man kann einfach hingehen, sich austauschen. Und wenn man das Gefühl hat, gefestigt zu sein, die Gruppe nicht mehr zu brauchen, kann man jederzeit auch wieder aussteigen.

Selbstverständlich kann es auch mit der Selbsthilfegruppe im Rücken zum Rückfall kommen. Das Risiko bestehe für ehemals Abhängige auch dann, wenn der letzte Schluck schon zehn Jahre her ist, weiß Ute Reiser. „Das ist das, was man das Suchtgedächtnis nennt“, erklärt sie. „Der Geruch von Alkohol, das Aussehen der Flasche oder die Art, sie zu öffnen, kann für manche den sofortigen Rückfall bedeuten.“

Deshalb trinkt Ursula Jaschinski nicht einmal mehr alkoholfreie Getränke. Sie erinnern sie zu sehr an ihre Sucht, sagt sie. Einmal habe es bei einer Familienfeier, bei einer Tochter zu Hause, alkoholfreien Sekt gegeben. „Als alle anderen nach ihrem Glas aufgestanden und nach draußen gegangen sind, bin ich sitzen geblieben und habe mir den Rest der Flasche ins Glas geschüttet. Ich bin sofort wieder in mein altes Verhalten gerutscht“, erzählt sie. Da tue es ihr gut zu wissen, dass sie jederzeit in die Gruppe zurück könnte, auch wenn der letzte Besuch schon länger her sei. „Man muss sich nicht schämen, in die Gruppe zurückzukommen. Das ist ein Teil der Krankheit. Die anderen verstehen das, weil es ihnen vielleicht schon genauso ergangenen ist“, sagt Josef Jochem vom Kreuzbund.

In den vergangenen zwei Jahren war es etwas schwieriger mit den Hilfsangeboten. Die Coronapandemie hat auch in die Selbsthilfegruppen hineingewirkt. „Corona war schon ein Bremsklotz“, sagt Josef Jochem. Während der Lockdowns versuchten viele Gruppen ihre Treffen durch Spaziergänge in Kleingruppen, Telefonate oder Videoanrufe zu ersetzen – eine Übergangslösung, die „besser war als nichts“, meint Ute Reiser. Für Ursula Jaschinski waren die digitalen Treffen kein adäquater Ersatz. „Mir fehlt da das Zwischenmenschliche“, sagt sie. „Interaktion finde ich extrem wichtig.“ Als umso schöner empfinde sie es, dass die Treffen nun wieder stattfinden können – genauso wie gemeinsame Aktionen und Ausflüge. Vor Ort, in der Gruppe, lassen sich leichter neue Freundschaften knüpfen. Denn auch die Gemeinschaft ist sehr wichtig. Damit die Flasche gar nicht erst zum Freund wird.

In der Gruppe fällt der Alkoholverzicht leichter

© Alexander Becher

„Studien zufolge
bleiben 80 Prozent der Teilnehmer von Selbsthilfegruppen trocken.“

Hilfsangebote in und um Backnang

Aktionstag Anlässlich der bundesweiten Aktionswoche Alkohol werden Vertreterinnen und Vertreter der Suchtberatung der Caritas sowie verschiedener Selbsthilfegruppen aus Backnang und der Umgebung am Samstag, 14. Mai, von 10 bis 13 Uhr an einem Infostand auf der Bleichwiese in Backnang Interessierte über die verschiedenen Hilfsangebote aufklären und Fragen zu Suchtthemen beantworten.

Selbsthilfegruppen Eine Übersicht über die Selbsthilfegruppen in und um Backnang findet man unter: https://tinyurl.com/49fjvzry Alle weiteren Informationen erhält man auf der Webseite der Caritas unter: www.caritas-ludwigsburg-waiblingen-enz.de

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Erstellt:
13. Mai 2022, 06:00 Uhr

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