Nippons Finanzwirtschaft
Japans Börse gibt Rätsel auf
Seit Monaten eilt Japans Börse von einem Rekord zum nächsten. Da der Aufschwung mit der Realwirtschaft wenig zu tun hat, mehren sich Fragen.

© Kyodo/dpa
Neuer Höchststand – Japans Börse boomt, der Nikkei 225 eilt von Erfolg zu Erfolg.
Von Felix Lill
In Tokio verlief die Woche mal wieder so, dass in den Augen vieler Händler sehr große Yen-Zeichen strahlen konnten. Der Nikkei 225 schloss mit mehr als 48 000 Punkten ab. Der Aufstieg des japanischen Aktienleitindex ist denkwürdig. Denn seit einiger Zeit eilt der Index, der die 225 größten börsennotierten Unternehmen Japans vereint, von einem Rekord zum nächsten. Mitte August staunte man, als er erstmals 43 000 Punkte überstieg. Denn jener Wert lag nochmal deutlich über einer historischen Marke, die erst Ende Februar 2024 erreicht worden war. Damals stand der Nikkei 225 am Ende des Handelstages bei 39 098 Punkten, also etwas über dem langjährigen Rekord von 38 915.
1989: Japan stürzt in die Krise
Analystinnen und Journalisten in Japan kennen diese Zahl genau. Sie markiert das Ende einer Boom-Ära, die in Japan seither schier unerreichbar erschienen war. Ende 1989 hatte die Bank of Japan (BOJ), Japans Zentralbank, nach jahrelangen Kursanstiegen inmitten niedriger Leitzinsen und eines schwachen Außenwert des Yen eine Spekulationsblase erkannt, woraufhin sie abrupt den Leitzins anhob. Die Folge: Kurse stürzten ab, und bald stürzte Japan in eine tiefe Wirtschaftskrise.
Die Geschichtsschreibung nennt jenen Beschluss der BOJ als den Beginn der „verlorenen Jahrzehnte“, in denen Japans Volkswirtschaft einfach nicht mehr wachsen sollte. Während längst die parallel geschehene alternde Bevölkerung und das schon etwas früher eingetretene Schrumpfen der Arbeitsbevölkerung als entscheidende Gründe verstanden sind, sehen nicht wenige in Japan bis heute einen hohen Wert des Nikkei 225 als Synonym für ökonomischen Aufschwung.
Von der Realität entkoppelt
Dabei haben sich die Bewegungen an der Börse längst von jenen der Realwirtschaft entkoppelt. Der Relative Strength Index (RSI), ein Maß zur Überhitzung, zeigte schon im August einen Wert von 75 an – während bei 70 davon ausgegangen wird, dass zu viel investiert worden ist. Generell aber: Inmitten demografischer Schrumpfung ist Japans Bruttoinlandsprodukt heute in etwa so hoch wie zu Anfang der 1990er Jahre. Das Land ist also ökonomisch über 35 Jahre kaum gewachsen. Und dennoch boomt die Börse.
Makroökonomisch erklärt sich dies längst nicht nur mit der Innovationskraft japanischer Unternehmen, die ihre Produkte eben weltweit absetzen. Sondern auch mit einer beispiellosen quantitativen Lockerung der BOJ, die damit die Konjunktur ankurbeln wollte. Um die Jahrtausendwende begann sie neben der Nullzinspolitik mit dem Aufkaufen von Staatsanleihen und bald auch Aktien.
Um 2013 wurde die Intensität deutlich erhöht – so sehr, dass die BOJ ab 2022 mehr als die Hälfte der japanischen Staatsschuld hielt. Kürzlich errechnete der Finanzdienstleister Bloomberg, dass die BOJ zudem sieben Prozent des Aktienmarkts in Japan in Form von ETFs besitzt. Anfang 2024 aber kündigte die Zentralbank an, aus ihrer massiven Lockerung allmählich aussteigen zu wollen. Seither gab es minimale Erhöhungen des Zinses. Letzte Woche folgte die Ankündigung, fortan ETFs abzustoßen.
Auf dem Weg nach oben
Aber während dies den Markt für kurze Zeit nach unten schickte, ist er nun schon wieder auf dem Weg nach oben. Und es wachsen Zweifel daran, wie nachhaltig die Bewegung ist. Shoichi Arisawa von Iwaicosmo Securities sagte zuletzt zu Reuters, dass er die Geschwindigkeit viel zu schnell finde, „überraschend schnell“ – zumal die Wirtschaft eigentlich nicht so positiv dastehe.
Solide Gründe für die jüngsten Kursanstiege gibt es allemal. Einer ist die vermeintliche Ruhe, die zuletzt rund um die Beziehungen mit den USA einkehrte. Nachdem im Januar Donald Trump zum zweiten Mal das Amt des US-Präsidenten angetreten hatte, waren schnell Drohungen höherer Zölle aufgekommen, was die Aktienwerte meist international ausgerichteter Konzerne nach unten drückte. Als dann im Juli aber ein Deal erzielt wurde, schossen sie wieder nach oben.
Ist der Nikkei überhitzt?
Ende Juli erklärte dies Maki Sawada, von der Investmentbank Nomura Securities, dem japanischen öffentlichen Rundfunksender NHK: „Da Unsicherheit in Bezug auf die Zollverhandlungen beseitigt wurden, lassen sich künftige Einnahmen besser berechnen, was dem Aktienmarkt hilft.“ Aber: Die Erleichterung zählt hier offenbar mehr als echte Substanz. Denn für die japanische Wirtschaft ist die Zeit nach dem Zollabkommen schlechter als die Zeit vor Donald Trump. Höhere Zölle behindern Exporte in die USA.
Doch die Kurse liegen heute allgemein höher als vor Januar 2025. Mehrere Beobachter sahen schon im Juli auch Zeichen, dass die Kurse zunächst weiter steigen könnten. Masahiro Yamaguchi von der SMBC Trust Bank behauptete: „Aktien können durch mehr positive Zeichen weiter steigen, zum Beispiel Deals der USA mit der EU und China.“ Die EU hat bereits ein Zollabkommen mit den USA unterzeichnet, China dagegen – hinter den USA die weltweit zweitgrößte Volkswirtschaft – verhandelt noch.
Nicht wenige Marktteilnehmerinnen rechnen über die kommenden Monate zumindest mit Kurskorrekturen. Maki Sawada sagt: „Es gibt Zeichen, dass der Nikkei überhitzt ist.“ Er steigt aber weiter.