„Jetzt liegt der Akzent auf den Opfern“

Rainer Vogt zeigt im Bürgerhaus in Unterweissach Bilder von Flüchtenden – Kontrapunkt zu seinen Porträts der Mächtigen

„Ruhe auf der Flucht?“ Rainer Vogt spielt in seinen neuesten Werken, in denen er die weltweiten Migrationsbewegungen thematisiert, mit Doppelsinnigkeit. Auch das Fragezeichen im Ausstellungstitel zeigt: Mit der Ruhe ist es nicht weit her. Bis 14. Oktober präsentiert der Künstler im Unterweissacher Bürgerhaus eine bemerkenswerte Werkschau mit Bildern, in denen er ein aktuelles, hochbrisantes Thema aufgreift.

Dieses Bild von Rainer Vogt trägt den Titel: „Auf dem (im) Trockenen sitzen“. Die Redensart ist hier angesichts der unter einer Plane kauernden Flüchtenden doppelsinnig.Foto: I. Knack

Dieses Bild von Rainer Vogt trägt den Titel: „Auf dem (im) Trockenen sitzen“. Die Redensart ist hier angesichts der unter einer Plane kauernden Flüchtenden doppelsinnig.Foto: I. Knack

Von Ingrid Knack

WEISSACH IM TAL. Für seine Porträts von Prominenten und Mächtigen ist Rainer Vogt bekannt. Parallel zur Weissacher Ausstellung sind von ihm in der Werkschau der Backnanger Künstlergruppe im Künstlerhaus Heilbronn „kult:zigarre“ Porträts von Keith B. Alexander, 2005 bis 2014 Chef der NSA, Laurence Douglas (Larry) Fink, Ceo von Black Rock – Herr über sechs Billionen Dollar, Henry M. Paulson, 2006 bis 2009 US-Finanzminister – zuvor Ceo bei Goldman Sachs, und der superreiche Jeff (Jeffrey Preston) Bezos, Gründer und Chef von Amazon, zu sehen. Die Arbeiten sind in den Jahren 2014 bis 2016 entstanden.

Ganz anders in Weissach. „Jetzt liegt der Akzent auf den Opfern der ganzen Prozesse in der Welt. Es sind die Leute, die ganz unten angesiedelt sind“, sagt Vogt. Die Ausstellung, zu der der Kulturkreis des Zweckverbands Bildungszentrum Weissacher Tal, die Gemeinde Weissach im Tal und der Künstler einladen, ist ein Kontrapunkt zu dem, was den Kunstbetrachter in Heilbronn erwartet.

Rainer Vogt gelingt es in seinen großformatigen Bildern zum Thema Flucht, die künstlerischen Mittel und die Motive während des Entstehungsprozesses gewissermaßen gleichberechtigt zu behandeln. Da wird gemalt, gezeichnet, collagiert, geschrieben, ganze Figuren sind ein einziger Text. Zweckfreie Malerei stellt die Atmosphäre her. Fluchtbilder nehmen beispielsweise ihren Anfang mit Action Painting auf der Leinwand. Erst später wird das Motiv auf dem so entstandenen Hintergrund entwickelt. Allerdings behutsam: „Ich versuche, mit wenig konkreten Elementen die Illusion herbeizuführen“, erklärt Vogt. „Der Farbgrund bringt zufällige Geschichten hervor, harmoniert aber mit der Zeichnung, ohne dass ich korrigieren müsste.“ Es ist ein Zusammenspiel von Illusion und Realität, von Kunst an sich und dem Willen, die Themen der Welt nicht außen vor zu lassen. Kunst, die sich selbst genügt, ist nicht die Sache des Backnangers. Und in seinem Atelier sitzt nicht nur der Künstler vor der Leinwand, sondern auch der Kunsterzieher, der Kunstkritiker und der Politikwissenschaftler, der sich mit globalpolitischen Verflechtungen auseinandersetzt. Es ist eine hochspannende Angelegenheit, sich auf dieses komplexe Gefüge aus Kunst und Wirklichkeit einzulassen. Themen wie Ästhetik und Ethik werden angesprochen.

Sozusagen als Einführung hängen gleich neben dem Eingang Reproduktionen von Darstellungen der Heiligen Familie auf der Flucht. Von Tizian, Jan Brueghel, Gerard David und anderen. Auffallend sind die idyllischen Landschaften im Hintergrund und die entspannten Gesichter – wobei Josef eine Sonderrolle zukommt. Vogt: „In der Renaissance haben die Maler einen Blick für das entwickelt, was uns umgibt. Für die echte Welt und nicht nur für Vorstellungswelten.“ Beim Ausstellungstitel und bei der Herangehensweise an die Fluchtbilder hat sich Rainer Vogt von diesen Darstellungen großer Meister inspirieren lassen. Und dann treffen wir auf heutige Fluchtszenen, die betroffen machen.

Eine Redensart wandelt Vogt für den Titel eines Bildes mit unter einer Plane kauernden Menschen und einer provisorischen Zeltstadt im Hintergrund leicht ab: „Auf dem (im) Trockenen sitzen“. Bei einem Rundgang kommentiert Vogt: „Die sitzen im Trockenen, das ist aber nicht das, was man sich vorstellt.“ Fünf farbige, großformatige Bilder aus diesem Jahr zeigen Situationen, die alle in ihrer Art extrem sind.

Menschen schleppen sich

von einem Boot an Land

„Nasse Landung“ ist die jüngste Arbeit Vogts. Dargestellt sind Menschen, die mit einem Boot an einem Ufer angekommen sind und sich an Land schleppen. Dass die Gestrandeten nicht mehr ganz bei Kräften sind, sieht man ganz deutlich. Immer wieder tauchen auch bei Vogt kleine Kinder auf, die gerettet werden. „Hier klingt die Heilige Familie immer wieder an“, erklärt der Künstler. Und wir sehen auf einem Bild Betonröhren als Behausungen. „In die (aus der) Röhre schauen“, titelte Vogt. „Wir schauen in die Röhre, sind aber privilegiert, weil wir reinschauen, aber nicht drin sitzen.“

Und dann sind da die großformatigen Leinwandzeichnungen aus dem Jahr 2017, in denen Vogt vor Augen führt, was der Krieg in Syrien für die Bevölkerung bedeutet. Menschen in Ruinen sind die Motive. Zerbombte Stadtlandschaften. Einmal sind die Menschen nur von hinten zu sehen. Gehen sie ins Jenseits?

Die Bilder sind zwar vordergründig Schwarz-Weiß, dennoch ist das Farbklima einmal kalt, einmal wärmer. Manchmal sogar in einem Bild. Dies rührt von der raffinierten Mix-Technik her, derer sich Vogt bedient. Auf der einen Seite zeichnete er etwa mit feinen und gröberen Stiften, für die rechte Seite benutzte er ausschließlich Pinsel. Beeindruckend zudem das flimmernde Licht und die Raumtiefen. Auch hier lohnt es sich, einen Blick auf die Titel zu werfen. „Etwa auf gutem Weg?“ mutet zwar in Zusammenhang mit dem Bild trotz des Fragezeichens zynisch an, Vogt hat aber etwas anderes im Blick: „,Auf gutem Weg’ sagen viele Politiker.“ Darüber hinaus zeigt der Künstler Palettenbilder (Fotografien) und Fotoprints abstrakter Arbeiten.

Bilder in zwei Häusern Info Die Ausstellung „Ruhe auf der Flucht?“mit Arbeiten von Rainer Vogt im Bürgerhaus in Unterweissach ist bis 14. Oktober an Sonn- und Feiertagen von 10 bis 18 Uhr, donnerstags von 16 bis 18 Uhr und samstags von 14 bis 18 Uhr geöffnet. Im Künstlerhaus Heilbronn„kult:zigarre“ stellt Vogt zusammen mit der der Backnanger Künstlergruppe in der Produktionshalle der einstigen Zigarrenfabrik aus. „ZIGART“ dauert bis 7. Oktober. Rainer Vogt (geboren 1944 in Bad Cannstatt) hat an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart Malerei und an der Universität Stuttgart Politische Wissenschaften studiert. Bis 2007 war er hauptberuflich Kunsterzieher. Nebenberuflich ist er Jahrzehnte lang für die Stuttgarter Nachrichten als Kunstkritiker unterwegs gewesen. Rainer Vogt ist Mitglied der Backnanger Künstlergruppe.
Trümmerlandschaft: Rainer Vogt hat sich in den vergangenen Jahren mit dem hochbrisanten Themenfeld „Krieg, Flucht, Verwüstung, Rettung“ auseinandergesetzt. Foto: A. Becher

© Pressefotografie Alexander Beche

Trümmerlandschaft: Rainer Vogt hat sich in den vergangenen Jahren mit dem hochbrisanten Themenfeld „Krieg, Flucht, Verwüstung, Rettung“ auseinandergesetzt. Foto: A. Becher

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Erstellt:
28. September 2018, 06:00 Uhr

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