Krankheitswelle flacht nicht ab

Erkältungen, Grippe, Infekte und immer noch Corona haben in diesem Herbst und Winter für wieder für eine hohe Krankheitswelle gesorgt. Besonders Kinderärzte stoßen an ihre Belastungsgrenzen. Seit Oktober kommen mehrere Infektionskrankheiten zusammen.

Besonders die Kinderärzte im Kreis kommen kaum noch hinterher. Neben wiederkehrenden Infektionskrankheiten hat auch die Zahl an psychosozialen Krankheiten zugenommen. Symbolfoto: stock.adobe.com/Robert Kneschke

© Robert Kneschke - stock.adobe.co

Besonders die Kinderärzte im Kreis kommen kaum noch hinterher. Neben wiederkehrenden Infektionskrankheiten hat auch die Zahl an psychosozialen Krankheiten zugenommen. Symbolfoto: stock.adobe.com/Robert Kneschke

Von Kristin Doberer

Rems-Murr. Die Telefone in den Arztpraxen stehen kaum still, die Wartezimmer sind voll – und das schon seit Monaten. Die Krankheitswelle im Herbst und Winter 2022/2023 ist heftig. Besonders Atemwegserkrankungen, Erkältungen, Bronchitis und die Grippe sorgen in diesem Winter für Krankmeldungen und viel Betrieb in den Kliniken und Arztpraxen. Während es in den vorangegangenen Wintern neben Corona kaum andere Infektionskrankheiten gegeben hatte, kommen diese nun nach dem Wegfall vieler Schutzmaßnahmen wie Abstandsgebote, Masken und dem Verzicht aufs Händeschütteln voll zurück. „Es gab insgesamt viel mehr Erkältungskrankheiten, aber auch Scharlach und RS (Respiratorische Synzytialvirus)“, nennt die Backnanger Hausärztin Ute Ulfert die Krankheiten, die in diesem Winter ungewöhnlich häufig aufgetreten sind. Auch hat es in diesem Winter im Vergleich zu den Vorjahren viele Influenzaerkrankungen gegeben. Das hat Eva Steininger, die vor einem dreiviertel Jahr die Hausarztpraxis von Stefan Gerber in Oppenweiler übernommen hat, sogar schwarz auf weiß. Weil die Praxis an einer Studie des Landes teilgenommen hat, seien bei quasi allen Patientinnen und Patienten mit Erkältungssymptomen Abstriche gemacht worden. „Wir hatten viele Fälle von Influenza. Sehr viele auch bei jungen Leuten und mit schwereren Verläufen als das sonst üblich war“, meint die Ärztin. Woran das lag, könne sie nur schwer einschätzen. Klar sei aber, dass die Schutzmaßnahmen, die aufgrund des Coronavirus in den vergangenen Wintern galten, auch vor anderen Erkrankungen geschützt haben. „In den Jahren zuvor haben wir nicht viel außer Corona gesehen“, meint Steininger zum Auftreten der Infektionskrankheiten. Nun seien aber auch wieder andere Krankheiten präsent. Neben Influenza seien wieder vermehrt Menschen mit Magen-Darm-Erkrankungen, Erkältungen oder einer Infektion mit dem RS-Virus in ihre Praxis gekommen.

Ab Oktober begann die Kurve steil zu steigen

Die Grippe beziehungsweise Influenza bestimmte im Winter die Krankheitswelle, im Rems-Murr-Kreis war sie ungewöhnlich früh gestartet. Laut Gesundheitsamt des Kreises wurden bereits Anfang Oktober erste Fälle nachgewiesen. Schon ab Ende Oktober begann die Kurve dann steil zu steigen, zurück gehen die Grippefälle erst seit Kurzem wieder. Auch ein Blick auf die Zahlen des Robert-Koch-Instituts bestätigt das. So sind in den ersten zwei Monaten des Jahre 2023 insgesamt 3.629 Influenzafälle in Baden-Württemberg gemeldet worden – im Jahr 2022 waren es in diesem Zeitraum nur 294. Bei diesen Zahlen ist aber zu bedenken, dass es sich nur um Diagnosen handelt, die über die Laborauswertung eines Abstrichs gesichert nachgewiesen sind. Da nicht alle Praxen jedes Mal einen Abstrich auf Influenza machen, geht das Gesundheitsamt von einer hohen Dunkelziffer an Influenzafällen aus.

In den vergangenen Jahren verlief die Influenzasaison etwas anders. Im Winter 2018/19 ging die Welle erst ab Anfang Januar richtig hoch und erreichte ihren Gipfel Anfang März. Im Winter 2019/20 begann die Influenzawelle zeitlich ähnlich wie 2018/2019, fiel aber früher in sich zusammen. Im Winter 2021/2022 gab es überhaupt keine richtige Influenzawelle. Im Gegensatz dazu war in diesem Winter schon sehr viel los in ihrer Praxis, meint Eva Steininger, aber es sei machbar gewesen.

Besonders Kinderärzte schaffen die Belastung kaum noch

Deutlich schlechter schätzen die Kinderärzte im Kreis die aktuelle Lage ein. „Wir sind hier gerade extrem Land unter und die Praxis platzt aus allen Nähten“, meint Ralf Brügel, Sprecher der Kinderärzte im Rems-Murr-Kreis. Zwölfstundentage ohne wirkliche Pause seien seit Monaten an der Tagesordnung, weil „die Infektwelle unverändert über uns hereinbricht“, meint Brügel. Dominierend in diesem Herbst und Winter seien bei den Kindern und Jugendlichen Streptokokkeninfekte – also Scharlach und Angina – und auch eine extreme Infekthäufung. Erst der RS-Virus, dann auch noch die Grippewelle und übliche Erkältungen. Besonders problematisch: „Es gibt häufiger Kinder, die seit November nun bereits den dritten oder sogar vierten fieberhaften Infekt haben“, sagt Brügel.

Das bestätigt auch die Backnanger Kinderärztin Sabina Delic-Bikic. „Seit Oktober hatten wir eigentlich keine entspannte Phase mehr“, sagt sie. Zum Teil seien die Kinder wiederholt mit Streptokokken infiziert und schlagen schon nach wenigen Wochen nach einer überstandenen Infektion mit der nächsten bei der Kinderärztin auf. „Die Kinder kommen auf keinen grünen Ast“, sagt Delic-Bikic. Dazu scheinen viele Infektionen schlimmer als das in der Zeit vor Corona der Fall gewesen war. So gebe es bei ihr mehr Komplikationen wie zum Beispiel Mittelohrentzündungen oder Lungenentzündungen.

Der Nachschub bei bestimmten Medikamenten ist seit Monaten gestört

„Ich musste noch nie so häufig Antibiotika verschreiben wie aktuell“, sagt die Kinderärztin und macht gleich noch auf ein weiteres Problem aufmerksam. Denn während die Krankheitswelle nicht nachlässt, ist der Nachschub bei bestimmten Medikamenten seit Monaten gestört. Zum Beispiel gibt es schon lange keine Fiebersäfte von Paracetamol mehr, bei einigen Antibiotika müsse die Medizinerin von der ersten Wahl auf andere Mittel umsteigen. „Wir müssen jeden Tag aufs Neue schauen, welche Mittel wir überhaupt kriegen. Das ist dann oft nicht die empfohlene erste Wahl, sondern die zweite oder dritte Wahl, die vielleicht nicht ganz so effektiv ist. Da kann die Rückfallquote wieder höher sein und wir drehen uns im Kreis“, meint Delic-Bikic. Hier müsse man in Zukunft dringend wieder auf Arzneimittelproduktion im Inland setzen, um solche Lieferprobleme in den Griff zu bekommen. Bei den Influenzafällen unter den Kindern sieht die Ärztin mittlerweile einen Rückgang, bei den Streptokokken allerdings noch nicht. 20 Kinder habe sie am Montag auf Streptokokken getestet, 18 seien positiv gewesen, häufig breche auch der für Scharlach typische Ausschlag aus. Dabei kämen diese Infektionen eigentlich mehr im Sommer vor. „Jetzt aber kommt alles auf einmal“, so die Ärztin. Vor Corona habe sie etwa 90 Kinder pro Tag gesehen, mittlerweile können es bis zu 140 Kinder sein.

Das zeigen auch die Zahlen aus der Kinderklinik der Rems-Murr-Kliniken. Hier werden pro Jahr etwa 4.000 Kinder stationär und 15.000 ambulant betreut. „Der laufende Winter war in der gesamten Nordhalbkugel der mit den schlimmsten Atemwegsinfektionen bei Kindern seit Jahrzehnten, Kinderkliniken waren überfüllt und Verlegungen teils über weite Strecken oft nötig“, teilt der Chefarzt Ralf Rauch mit. RS-Viren, Covid, Influenza und vor allem Streptokokken Typ A haben gerade Kinder von einem bis zehn Jahren in europäischen Ländern geschädigt. „Wir haben in Winnenden insbesondere mit diesen invasiven Typ-A-Streptokokkeninfektionen zu tun gehabt, die oft eitrige Abszesse in der Lunge verursacht haben und ausgeräumt werden mussten, aber auch mit schlimmen Verläufen bei foudroyanten Influenza-Typ-B-Erkrankungen.“ Auch in der Klinik habe man die häufige Abfolge mehrerer Erreger beobachtet. Dies habe dazu geführt, dass Kinder eigentlich seit November durchgehend schwer krank oder gar sauerstoffbedürftig waren. „Diese Kinder sind dann auch anfälliger für zeitgleiche Infektionen mit anderen viralen oder bakteriellen Erregern“, so Rauch.

Psychische Probleme haben auch bei Kindern stark zugenommen

Nicht nur die Infektionskrankheiten sorgen für einen Ansturm auf die Praxen, auch die psychosozialen Probleme, also zum Beispiel Schulverweigerung, Essstörungen oder Selbstverletzungen, haben laut Brügel zugenommen. „Die hier extrem notwendige Zeit für Gespräche fehlt und ein Weiterleiten an Fachkollegen ist quasi unmöglich, weil es überall monatelange Wartezeiten gibt.“ Diese Gespräche wolle man nicht in fünf Minuten abhaken, bestätigt auch Sabina Delic-Bikic. Das führe neben den Infektionskrankheiten aber zu zahlreichen Überstunden bei den Ärzten und deren Teams.

Nicht hilfreich sei da auch so manche Reaktion der Eltern. Am Telefon oder auch in der Praxis komme es manchmal auch zu Anschuldigungen und Ausbrüchen. „Die Eltern sind verzweifelt, wenn die Kinder ständig krank sind und wenn auch sie nicht arbeiten können. Aber trotzdem erwarten wir noch etwas Respekt.“ Um auf ihre Lage aufmerksam zu machen, planen die Kinderärzte im Kreis am 27. Juni einen Protesttag. „Wir schaffen es kaum mehr. So können wir nicht weiterarbeiten“, sagt Brügel.

Zum Artikel

Erstellt:
15. März 2023, 06:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Lesen Sie jetzt!
Die Mitarbeiter der Stadt sind im Dauereinsatz, um rund um die Container wenigstens das Gröbste aufzuräumen.Archivfoto: Edgar Layher
Top

Stadt & Kreis

Mehr Container in Backnang für Altglas und Papier

Die Zahl der Recyclingcontainer steigt im Backnanger Stadtgebiet auf insgesamt 210. Neue Standorte gibt es im Aurelis-Areal, an der Oberen Bahnhofstraße oder an der Manfred-von-Ardenne-Allee. Gleichzeitig fallen aber intensiv genutzte Standorte weg, etwa beim Wasserturm.

Stadt & Kreis

Cyberkriminalität und Gewalt nehmen im Raum Backnang zu

Die Kriminalitätsstatistik des Polizeipräsidiums Aalen verzeichnet für 2023 steigende Fallzahlen in fast allen Bereichen. Teilweise sei dies eine Normalisierung gegenüber den Pandemiejahren, doch Polizeipräsident Reiner Möller sieht auch Anzeichen von Verrohung in der Gesellschaft.