Kritik an der geplanten Wahlrechtsreform auch im Raum Backnang
Die Backnanger Bundestagsabgeordnete Inge Gräßle (CDU) lässt kein gutes Haar an dem Entwurf, den die Ampelregierung jüngst vorgelegt hat. Landtagsabgeordneter Gernot Gruber (SPD) übt verhaltene Kritik an den Reformplänen und votiert für eine gemeinsame Lösung aller Parteien.

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Auszählung der Stimmen bei der Bundestagswahl 2021 im historischen Rathaus in Backnang. Archivfoto: Jörg Fiedler
Von Florian Muhl
Rems-Murr. „Das ist ein radikaler Eingriff, der die Politikstrukturen in Deutschland massiv verändert“, echauffiert sich Inge Gräßle über den Gesetzesentwurf für eine Wahlrechtsreform, den die Ampelregierung dieser Tage vorgelegt hat (wir berichteten). „Der Vorschlag ist zutiefst undemokratisch und eine Entwertung der Direktmandate“, so die Backnanger CDU-Bundestagsabgeordnete weiter. Gräßle kritisiert auf Anfrage unserer Zeitung, dass nicht gesichert ist, dass derjenige, der ein Direktmandat erringt, es dann später auch bekommt, sollte der Ampelvorschlag kommen. Nur wer bei der Wahl prozentual am besten abgeschnitten habe, erhalte dann auch ein Direktmandat. „Dann wäre es denkbar, dass ein Wahlkreis gar keinen Abgeordneten mehr hat“, prophezeit die Abgeordnete.
Warum kommt die Regierungskoalition jetzt mit ihrem Vorschlag? Gräßle hat eine Begründung parat: „Im Grunde geht’s der Ampel darum, der CSU Sitze wegzunehmen und der CDU Baden-Württemberg Sitze wegzunehmen.“ Im Ländle würden die Christdemokraten zwölf Sitze verlieren, das wäre ein Drittel ihrer Sitze. „Das ist ein Versuch, die CDU und die CSU sozusagen auf Dauer von der Regierung fernzuhalten“, schimpft Gräßle und erklärt: „Wir sind halt bürgernah, wir sind diejenigen, die bei den Menschen sind und deswegen gewinnen wir auch die Direktmandate. Das ist ja kein Geschenk, das der Wähler macht.“
Bei dem Vorschlag geht es um sehr viel mehr als um individuelle Schicksale von Abgeordneten, so Gräßle. Da gehe es um die Frage, wie sich Politikstrukturen verändern würden. „Haben Sie dann überhaupt noch jemanden vor Ort, der sich kümmert und sich für Ihre Belange einsetzt?“
Eine Möglichkeit: von bislang 299 Wahlkreisen 19 einsparen
„Wir wollen auch den Bundestag verkleinern. Wir haben gesagt, wir machen einen moderaten Eingriff in die Abgrenzung von Wahlkreisen“, sagt die Abgeordnete. Geltendes Recht sei aktuell, den Bundestag um 19 Sitze zu verkleinern. Das habe die CDU noch in der letzten Regierung, der Großen Koalition, eingebracht. „Das ist ein wesentlich weniger radikales Modell und kein so tiefer Eingriff in die Demokratie.“ Der Vorschlag sieht vor, von den bislang 299 Wahlkreisen 19 einzusparen und die Gesamtzahl durch Änderung der Zuschnitte einiger Wahlkreise auf 280 zu reduzieren. „Als Folge gibt es dann auch weniger Überhang- und Ausgleichsmandate.“ Es gebe etliche kleine Wahlkreise im Süden der Republik, in Baden-Württemberg seien die beiden kleinsten Schwarzwald-Baar und Esslingen. „Man kann also mit relativ wenig Aufwand diese Wahlkreisoperation vornehmen“, meint die 61-Jährige. Der Vorteil: Jeder Wahlkreis habe noch einen Abgeordneten.
Auch Ricarda Lang sitzt für Backnang im Bundestag. Anders als Inge Gräßle, die bei der Wahl 2021 das Direktmandat erhalten hatte, ist die Grünenvorsitzende über einen Landeslistenplatz ins Parlament eingezogen. Was denkt die 29-Jährige über den Gesetzesentwurf? Die Bitte um ein kurzes Telefonat mit unserer Zeitung hat sie leider ausgeschlagen. Über eine Mitarbeiterin ihres Wahlkreisbüros lässt Ricarda Lang ausrichten: „Leider müssen wir mit Blick auf die Kapazitäten absagen.“
SPD-Landtagsabgeordneter Gernot Gruber zeigt sich auf Anfrage zwiegespalten. „Das Ziel, dass man den Bundestag wieder verkleinert, halte ich für richtig. Den Vorschlag der Ampelparteien halte ich im Ansatz für interessant. Aber ich persönlich halte es für nicht akzeptabel, dass jemand, der das Direktmandat gewinnt, das Direktmandat nicht bekommt.“
„Da sträuben sich bei mir alle Nackenhaare“
Aus verfassungsrechtlicher und politischer Sicht sagt der 60-Jährige zu dieser Vorgehensweise: „Da sträuben sich bei mir alle Nackenhaare.“ Die Entscheidungsmöglichkeit der Bürgerinnen und Bürger, wer ihren Wahlkreis direkt vertritt, darf man ihnen nicht nehmen, meint Gruber. „Das halte ich also wirklich für einen Fehler an dem Vorschlag der Ampelparteien.“
Der Sozialdemokrat hält es für richtig, den Ausgleichsmechanismus bei der Zusammensetzung des Bundestags zu belassen, die Anzahl der Wahlkreise aber zu reduzieren. Gruber favorisiert deshalb den Beschluss der Großen Koalition, die Wahlkreise von 299 auf 280 zu reduzieren. „Das ist aber auch ein schwieriger Weg. Der schadet der CDU im Süden und der SPD im Norden. Trotzdem halte ich es für richtig.“
Wichtig ist es dem Landtagsabgeordneten, dass ein Gesamtkompromiss erzielt wird und sich alle Parteien auf ein gemeinsames Wahlrecht einigen. „Das soll ja die nächsten 50 Jahre halten. Bei solchen Grundsatzentscheidungen, das hat die Geschichte von Deutschland gelehrt, ist es gut, wenn Regierung und Opposition da zusammenarbeiten“, sagt Gruber. Sein Fazit: „Ich glaube, dass der Vorschlag der Ampelparteien noch nicht das letzte Wort ist.“
Wahlrechtsreform Der Bundestag ist mit 736 Abgeordneten so groß wie nie zuvor. Die Fraktionen von SPD, Grünen und FDP der Ampelregierung haben einen Gesetzesentwurf für eine Wahlrechtsreform vorgelegt. Demnach soll das Parlament wieder schrumpfen – auf die gesetzlich vorgesehene Regelgröße von 598 Abgeordneten.
Erststimmen Die Hälfte der 598 Bundestagsabgeordneten (299) wird aufgrund der Mehrheit der Erststimmen direkt gewählt, die andere Hälfte zieht über die Landeslisten der Parteien in den Bundestag ein.
Gesetzesentwurf Der Entwurf der Ampel sieht vor, die Überhang- und Ausgleichsmandate abzuschaffen. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei über die Erststimmen mehr Direktmandate erringt, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. Erhält eine Partei keine oder wenige Überhangmandate, wird das durch Ausgleichsmandate ausgeglichen.
Überhangmandate Bei der Bundestagswahl 2021 gab es insgesamt 138 Überhang- und Ausgleichsmandate. Davon entfielen 41 auf die Union, 36 auf die SPD, 24 auf die Grünen, 16 auf die FDP, 14 auf die AfD und 7 auf die Linkspartei.
Wahlkreise Die Wahlrechtskommission des Bundestags hat sich vor zwei Monaten mit dem Zuschnitt von Wahlkreisen befasst. Deutschland ist in 299 Wahlkreise gegliedert, deren Grenzen allerdings nicht mit denen der Landkreise oder kreisfreien Städte deckungsgleich sind. Die 299 direkt gewählten Abgeordneten vertreten ihren Wahlkreis unmittelbar.
Reduzierung Bereits 2020 hat der Deutsche Bundestag die Reform des Wahlrechts angeschoben. Im Oktober 2020 wurde der Entwurf der Großen Koalition zur Änderung des Bundeswahlgesetzes angenommen. Dieser sieht die Reduzierung der Wahlkreise zum 1. Januar 2024 von derzeit 299 auf dann 280 Wahlkreise vor.
Bevölkerungszahl Für den Zuschnitt von Wahlkreisen gibt das Wahlgesetz unter anderem vor, dass die Bevölkerungszahl eines Wahlkreises von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Wahlkreise um nicht mehr als 15 Prozent nach oben oder unten abweicht. Beträgt die Abweichung mehr als 25 Prozent, müssen die Wahlkreisgrenzen neu gezogen werden.
Venedig-Kommission Als Empfehlung gilt der Vorschlag der Europäischen Kommission für Demokratie und Recht (Venedig-Kommission), eine maximale Abweichung von zehn Prozent einzuhalten und Abweichungen von mehr als 15 Prozent nicht zuzulassen.