Lossas Schicksal als Mahnung für heute

Film und Vortrag mit Michael von Cranach im Technikforum  –  Die Schwester des Ermordeten verteilt im Publikum Rosen

Auf Initiative von Pfarrer Wolfgang Beck luden die katholische Gesamtkirchengemeinde Backnang, die Lebenshilfe, die Paulinenpflege sowie die Stolperstein-Initiative zu einem Film- und Gedenkabend für Ernst Lossa ein. Er war 1944 als 14-Jähriger in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee im Rahmen des Euthanasie-Programms des NS-Staates ermordet worden. Die Veranstalter betonten die Wichtigkeit des Gedenkens und wollten mit dem Abend einen Beitrag dazu leisten.

Vor knapp 80 Besuchern schildert Michael von Cranach, wie es zu dem Euthanasie-Programm kommen konnte.Foto: A. Becher

© Pressefotografie Alexander Beche

Vor knapp 80 Besuchern schildert Michael von Cranach, wie es zu dem Euthanasie-Programm kommen konnte.Foto: A. Becher

Von Hans-Christoph Werner

BACKNANG. Nach der Vorführung des Films „Nebel im August“ ist Pause. Gut zwei Stunden hat der Film von Regisseur Kai Wessel in Anspruch genommen. Es gibt Butterbrezeln und Getränke für die etwa 80 Filminteressierten. Zögerlich greifen sie zu. Denn der Film hat betroffen gemacht. Und die ganze Pause über wird auf dem großen Bildschirm im Technikforum das Foto von Ernst Lossa gezeigt. Ein Bild aus seiner Krankenakte. Das Haupt kahl geschoren, den Blick ernst auf den Betrachter gerichtet.

Ernst Lossa wird 1929 in Augsburg geboren. Seine Mutter stirbt vier Jahre nach seiner Geburt. Der Vater kommt 1936 ins Konzentrationslager in Dachau. Er gehört zur Volksgruppe der Jenischen, die als fahrende Gewerbetreibende unterwegs sind. Für die Nazis gilt er als Zigeuner. Und das reicht als Haftgrund. Ernst Lossa und seine Geschwister werden in Kinderheimen untergebracht. Von Heim zu Heim weitergereicht, kommt Ernst Lossa 1942 in die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee. Den Aufenthalt dort schildert der Film.

Beklemmende Bilder zeigen das Ende des 14-Jährigen

Misstrauisch und neugierig erforscht Ernst Lossa das Leben unter gesunden und beeinträchtigten Klinikinsassen. Der leitende Arzt Dr. Veithausen (so der Name im Film) ist dabei, das furchtbare Euthanasie-Programm der Nazis in die Tat umzusetzen. Immer wieder werden Kinder ausgewählt. Eine der Krankenschwestern verabreicht mit Barbiturat versetzten Himbeersaft, dessen Einnahme die Kinder nicht überleben. Ernst und eine der Pflegerinnen, Schwester Sophia, schöpfen Verdacht. Erst hofft Ernst, dass ihn sein Vater aus dem Heim holt. Aber der kann keinen festen Wohnsitz vorweisen. Dann schmiedet er mit einem anderen Jungen zusammen Fluchtpläne. Schließlich hilft er Schwester Sophia, ein Mädchen, das zur Tötung ausersehen war, zu verstecken.

Ernst Lossa geht dem Leichenbeschauer und Präparator der Anstalt bei seiner Arbeit zur Hand und ist dadurch mit dem Tod seiner Kameraden intensiv konfrontiert. Bei der Beerdigung von Schwester Sophia, die bei einem Fliegerangriff das Leben verliert, kommt es zum Eklat. Ernst nennt den leitenden Arzt einen Mörder. In beklemmenden Bildern wird das Ende des 14-Jährigen geschildert. Dr. Veithausen streicht den Namen Lossas aus der Liste der Heiminsassen. Pfleger und Krankenschwester betreten mit Tötungsinstrumenten das Schlafgemach von Ernst. Eine Krähe fliegt an ein Fenster des Schlafsaales der Kinder und Jugendlichen und hackt mit dem Schnabel gegen das Fenster. Ein Mädchen, das sich mit Ernst angefreundet hatte, deutet die Krähe am Fenster so: Im Esssaal verkündet sie, dass Ernst es geschafft habe. Er sei in Amerika. Ernst hatte immer wieder erzählt, dass dies sein Ziel sei. Der Leichenbeschauer bricht, als er Ernst auf dem Seziertisch vorfindet, in Tränen aus.

Der grassierenden Tendenz des

Vergessens entgegenwirken

In seiner Eingangsmoderation zum Vortrag von Michael von Cranach betont Robert Antretter, dass angesichts einer grassierenden Tendenz des Vergessens das Erinnern eminent wichtig werde. „Was einmal war, kann wieder sein“, zitiert er den Philosophen Theodor Adorno. Das Erinnern sollen Filmvorführung und Vortrag leisten. Mit unter den Zuhörern ist zudem die Schwester von Ernst Lossa, die in Backnang lebende Amalie Speidel. Der gezeigte Film geht auf die langjährige Recherche-Arbeit und den historischen Roman von Robert Domes zurück. Auch diesen Autor kann Robert Antretter begrüßen. Michael von Cranach, zuletzt Leitender Ärztlicher Direktor an der Psychiatrischen Klinik Kaufbeuren-Irsee und damit am Ort des grausamen Geschehens, schildert, wie es zur Tötung von Heiminsassen kommen konnte. Lange vor der Machtergreifung der Nazis hatte man das, was Charles Darwin bei den Tieren als Selektions- und Mutationsprozess beobachtet hatte, auf den Menschen übertragen. Schon 1920 plädierten ein Jurist und ein Psychiater für die „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“. So der Titel ihres Buches damals. Ein Erlass Adolf Hitlers an zwei Ärzte brachte das Euthanasieprogramm ins Rollen. Ab 1940 wurden Todgeweihte mit Bussen in sechs Tötungsanstalten gebracht, wo sie vergast wurden. Als die Sache ruchbar wurde und sich Protest regte, wurden die Transporte wieder eingestellt.

Der Münsteraner Bischof Graf von Galen hatte das Tötungsprogramm in einer Predigt des Jahres 1941 offen als Mord bezeichnet. Im August 1941 verfügte Hitler die Einstellung dieser Verfahrensweise. Die Verantwortlichen des Euthanasie-Programms delegierten daraufhin das schmutzige Geschäft direkt an die einzelnen Heil- und Pflege-Anstalten. In Kaufbeuren-Irsee wurde neben der Giftspritze die Methode eingesetzt, Patienten durch minderwertige Ernährung schlicht und einfach verhungern zu lassen. Die Ordensschwestern in Kaufbeuren-Irsee durchschauten die Sache. Das geht aus ihrem ergreifenden Tagebuch, so Michael von Cranach, hervor.

Sie suchten Hilfe beim zuständigen Bischof in Augsburg. Der aber drängte sie zum tröstenden Aushalten der bösen Sache. Am Beispiel eines Ordinarius für Psychiatrie aus Breslau schilderte von Cranach, dass ein auf Biologie reduziertes Denken zu der Entscheidung führen musste, Menschenleben als wert und unwert zu unterscheiden.

Amalie Speidel bedankt sich für

das Gedenken an ihren Bruder

Dass das Thema auch heute Brisanz besitze, zeigt sich für den Vortragenden daran, dass erst 2008 die UN-Behindertenrechtskonvention verabschiedet worden sei. Zum anderen habe der Bundestag nach einer Sternstunde parlamentarischer Diskussion in der Frage der Sterbehilfe restriktive Rahmenlinien gesetzt. Umfragen unter Familien, die ein behindertes Kind zu betreuen haben, hätten nicht ergeben, dass sie dies als Last empfänden. Im Gegenteil, sie würden das behinderte Familienmitglied als Mittelpunkt ihres Familienlebens schildern. Man müsse deshalb, so Michael von Cranach, „äußerst vorsichtig sein, wenn eilfertig erlösendes Handeln“ vorgebracht werde.

Einen besonderen Akzent erhielt der Abend noch dadurch, dass am Schluss des Abends die Schwester von Ernst Lossa ans Mikrofon trat und sich für den Abend und das Gedenken an ihren Bruder bedankte. Liedverse mit dem Titel „Ich schenke dir Rosen“ trug sie vor und unterstrich dies damit, dass sie einen großen Bund roter Rosen an die Gäste des Abends verteilen ließ.

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Erstellt:
5. November 2018, 06:00 Uhr

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