Marbacher Muskelmann mit Rauschebart

Sagenhaft Mehr als eine Brunnenfigur – im Wald soll ein riesenhafter Straßenräuber gelebt haben, der seine Opfer verspeiste

marbach „Die wilden Männer sind’s genannt“, hat Goethe einmal in seinem „Faust II“ einige Zeilen über Riesen begonnen und sie so beschrieben: „Natürlich nackt in aller Kraft, sie kommen sämtlich riesenhaft. Den Fichtenstamm in rechter Hand und um den Leib ein wulstig Band, den derbsten Schurz von Zweig und Blatt, Leibwacht, wie der Papst nicht hat.“ Woher er es weiß? Von seinem Dichterkollegen Schiller?

Der hat seine ersten Lebensjahre nahe des Niklastores gewohnt, und gegenüber seinem Geburtshaus steht ein Brunnen, der schon 1690 als Niklastorbrunnen erwähnt wird und Anfang des 18. Jahrhunderts eine Wilde-Mann-Figur erhalten haben soll: einen Muskelmann samt Rauschebart, der da, wo es schicklich ist, mit Weinlaub umwunden ist, sich auf einen schweren Knüppel stützt und das Marbacher Stadtwappen hält.

Egal nun, was der kleine Friedrich gesehen hat und was der große Schriftsteller später Goethe erzählt hat – Tatsache ist, dass das Geburtshaus des ja so der Aufklärung verpflichteten Schillers von einem ganzen Kranz von Sagen umgeben ist.

Da ist vor allem der Wilde Mann. Er soll einst in einem dichten Wald gelebt haben, der da wuchs, wo heute Marbach liegt. Er sei ein riesenhafter Kerl gewesen und Straßenräuber dazu: Wen er sich greifen konnte, den tötete er, schleppte ihn in seine weinumrankte Höhle und aß ihn dort auf.

Das ist ja jetzt eigentlich nicht so tugendhaft – aber ein Simon Studion, der um 1600 an der Marbacher Lateinschule Lehrer war und auch ein fleißiger Ausgräber römischer Relikte, überlieferte eine Beschreibung und sogar eine Zeichnung dieses Waldbewohners. Denn einen Verdienst schreibt er ihm zu: Er habe wegen der Keule und des Weinlaubs Mars Bacchus geheißen, und davon leite sich der Name Marbach ab. Aber nicht alles, was so in Schulen gelehrt wird, stimmt. Die Franken haben hier eine Markungsgrenze am Wasser gehabt und deshalb von „marcbach“ geschrieben.

Im Haus hinter dem Brunnen soll ein Mönch herumgegeistert sein. Der war so wie früher die Jugendherbergsväter: Um zehn Uhr ist Bettruhe. Aber wie das so ist mit Anweisungen: Die Frau, die in dem Haus lebte, blieb abends gerne länger weg – zum Beispiel bei ihrer Nachbarin im Schillerhaus.

Dann schnurrte es manchmal unter dem Tisch ganz lang, so zeigte der Mönch ihr die Zeit an. Vielleicht hatte die Frau auch wenig Lust, in das Spukhaus zurückzukehren, denn der Mönch, ganz in Schwarz und mit schwarzer Zipfelmütze, habe wild und wüst ausgesehen. Und wenn die Frau verständlicherweise überzog, fand sie statt der Tür eine feste Mauer vor. Einzige Chance: durchs Fenster krabbeln.

Vielleicht war der Mönch auch nur deshalb so grantig, weil Marbach ja völlig evangelisch war. Vielleicht ist die Sage deshalb auch eher auf dem Boden religiöser Propaganda entstanden. Wie so etwas funktioniert, zeigt die letzte Erzählung aus dem Umkreis des Brunnens.

Ein paar Häuser weiter steht das alte Schulhaus, in der Unteren Holdergasse 4. Dessen Vorgänger war ein Beginenkloster, also eine Kommune von Frauen, die nicht in einen Orden, aber ein gemeinsames Leben führen wollten. Und ein Gerücht wollte wissen, dass von diesem Beginenhaus ein unterirdischer Gang zum Frauenkloster Steinheim ging, auf dass die Frauen beider Häuser „einen sündhaften Umgang“ miteinander hatten. Fake-News, die politisch motiviert waren: Herzog Christoph von Württemberg hatte nach Besitz von allen Klöstern gegriffen, da konnte eine Propaganda-Sage zur Unterstützung nicht schaden.

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Erstellt:
4. Januar 2019, 03:12 Uhr

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