Mit der Hilfe von außen den Weg aus der Sucht finden

Dass zu viel Alkohol der Gesundheit schadet, wissen die meisten. Wie kurz der Weg in die Sucht ist, ist dagegen nur den wenigsten bewusst. Zum heutigen bundesweiten Aktionstag Suchtberatung erinnert sich eine ehemals Alkoholabhängige an die Zeit, in der ihre Gedanken nur noch um das nächste Glas kreisten.

Claudia Kuhn (links), Vorsitzende des Kreuzbunds Backnang, Stefanie Artelt (Mitte), Leitung des Fachbereichs Suchthilfen der Caritas in Backnang, und Ute Reiser, Caritas-Mitarbeiterin, bieten Menschen mit einer Sucht und deren Angehörigen Unterstützung an. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Claudia Kuhn (links), Vorsitzende des Kreuzbunds Backnang, Stefanie Artelt (Mitte), Leitung des Fachbereichs Suchthilfen der Caritas in Backnang, und Ute Reiser, Caritas-Mitarbeiterin, bieten Menschen mit einer Sucht und deren Angehörigen Unterstützung an. Foto: A. Becher

Von Melanie Maier

Backnang. Die meisten, die Ulla König (Name geändert) kennen, wissen nicht, dass sie alkoholabhängig war. Und dass das noch gar nicht so lange her ist. Die 68-jährige Rentnerin aus Backnang ist sehr aktiv. Sie engagiert sich ehrenamtlich, geht gerne mit ihren Hunden spazieren. Sie kleidet sich modebewusst, legt Wert auf ein gepflegtes Äußeres. Kurzum: Sie ist nicht die Person, die man sich in einer Suchthilfeeinrichtung vorstellt. Doch das Bild vom Abhängigen, der sich spätnachts völlig betrunken vor der Bahnhofskneipe kaum noch auf den Füßen halten kann, sei ein Klischee und treffe nur in den seltensten Fällen zu, sagt Stefanie Artelt, Leitung des Bereichs Suchthilfen der Caritas in Backnang. „Menschen mit einer Suchterkrankung sind oft sehr gut darin, zu verheimlichen“, führt Artelt aus. „Das kann die Nachbarin von nebenan sein, die sich einsam fühlt, oder der Handwerksmeister, der aus Stress zu viel trinkt. Eine Suchterkrankung verläuft meistens schleichend. Und sie kann jeden treffen.“

Vor sich selbst verdrängte sie lange, dass sie ein Problem hatte

Bei Ulla König hatte die Alkoholsucht einen konkreten Auslöser. Ihr Sohn starb vor drei Jahren an akutem Herzversagen. Er wurde nur 40 Jahre alt. „Als ich das erfahren hab, ging’s bei mir bergab“, sagt Ulla König. In den ersten Tagen und Wochen nach ihrem unaushaltbaren Verlust habe sie oft Alkohol getrunken, um sich zu betäuben. „Damit man es einfach mal vergisst.“

Doch schon bald wurde das beruhigende Glas zur Sucht. Wenn Ulla König morgens aufstand, war ihr bereits übel. Sie zitterte, musste sich übergeben. Danach goss sie sich das nächste Glas ein. „Immer nur Rosé, keinen harten Alkohol“, sagt die Rentnerin. Dass eine Alkoholabhängigkeit nicht davon abhängt, ob man Sekt oder Schnaps trinkt, war ihr damals nicht so recht bewusst. Vor sich selbst verdrängte sie lange, dass sie ein Problem hatte. Und das, obwohl sie längst den Alkohol in Supermärkten weit weg von ihrem üblichen Geschäft einkaufte, um mit den vielen Rosé-Flaschen nicht aufzufallen. Obwohl ihre Gedanken nur noch darum kreisten, wo sie Alkohol auftreiben könnte. Das Zittern tauchte auch tagsüber auf. Sie brauchte immer mehr. Und Aufhören, das ging nicht so einfach. Nahm sie sich vor, nichts mehr zu trinken und tat es doch, fühlte sie sich hinterher schuldig und griff erst recht zur Flasche. Ein Teufelskreis.

Es war ihre Tochter, die sie schließlich direkt auf die Sucht ansprach. „Mutter, du hast dich verändert“, sagte sie am Telefon. Kurz darauf fuhr sie mit ihr zum Hausarzt. Er überwies die damals 65-Jährige in das Zentrum für Psychiatrie Winnenden (ZfP) im Klinikum Schloss Winnenden – keine Klinik nur für Suchtkranke, sondern eine Alterspsychiatrie. Vier Tage verbrachte Ulla König in der geschlossenen Abteilung, insgesamt war sie acht Wochen dort. Bis heute ist sie von ihrem Aufenthalt begeistert, bei dem Therapiesitzungen, aber auch Sport oder Wanderungen auf dem Programm standen. „Das war meine zweite Heimat“, sagt sie. Anfangs wussten nur ihre Tochter und ihr Bruder, dass ihre Zeit im ZfP nicht nur mit dem Tod ihres Sohnes, sondern auch mit ihrer Sucht zusammenhing. „Du schämst dich ja“, erklärt Ulla König. „Ich wusste nicht: Wie sage ich das meinen Freunden? Es hat mich riesige Überwindung gekostet, zu sagen: Ich habe ein Alkoholproblem. Oder dass ich in der Psychiatrie war. Man wird ja gleich abgestempelt.“ Bis heute wissen nur ihre engsten Freunde von ihrer Alkoholabhängigkeit.

Um aus dem ZfP entlassen zu werden, musste sie eine Anschlussbehandlung vorweisen. Sie rief sieben Psychotherapeuten an, doch so kurzfristig hatte keiner einen Platz frei. Ihr Hausarzt schlug ihr vor, sich bei der Caritas zu melden. Dort bekam sie umgehend einen Termin bei Ute Reiser vom Bereich Suchthilfen. „Frau Reiser ist eine ganz tolle Frau“, schwärmt Ulla König. „Mit ihr konnte ich über alles reden.“

Beim Erstgespräch schaue man bei jeder Person individuell: Welche Vorstellung hat sie, was genau braucht sie?, sagt Ute Reiser. „Wir bieten hier im Haus eine zieloffene Beratung an, möchten niemanden in eine Richtung drängen.“ Manchmal stelle sich heraus, dass hinter einer Alkohol- oder Drogensucht tatsächlich eine ganz andere Problematik stehe. Auch in dem Fall biete die Caritas Hilfe an, vermittle gegebenenfalls an die richtige Stelle.

Ihre Abhängigkeit hat Ulla König heute im Griff. Sie trinkt keinen Tropfen Alkohol mehr. Das heißt aber nicht, dass das Thema abgeschlossen ist. „Meine Tochter“, sagt sie, „hat immer noch bei jedem Anruf Angst, dass ich Alkohol gehabt habe.“ Und in stressigen oder schwierigen Phasen, etwa um den Todes- und den Geburtstag ihres Sohnes, fällt es ihr schwer, nicht rückfällig zu werden. Da braucht sie Unterstützung. In diesen Zeiten ist sie froh um die Gespräche mit Ute Reiser und die Selbsthilfetreffen des Kreuzbunds – mit Menschen, die nachvollziehen können, wie es ihr geht und die den täglichen Kampf mit sich selbst kennen. Denn Alkohol ist nahezu allgegenwärtig in Deutschland. Er ist immer verfügbar, gehört scheinbar zu unserer Kultur – wir trinken, um zu feiern, zu vergessen, zum Genuss. Für Süchtige eine Herausforderung. „Es ist schon erschreckend, wie sehr Alkohol dazugehört und wie viel getrunken wird“, sagt Ulla König. Doch für sie ist das keine Option mehr: „Ich weiß ja, wie das endet.“

Alkoholkonsum hierzulande

Risiken Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums konsumiert jede sechste Person in Deutschland Alkohol in gesundheitlich riskanter Form. Rund 1,6 Millionen der 18- bis 64-Jährigen gelten hierzulande als alkoholabhängig. Ein dauerhaft erhöhter Konsum ist einer der wesentlichen Risikofaktoren für zahlreiche chronische Erkrankungen und Unfälle. Analysen gehen von jährlich etwa 74000 Todesfällen durch Alkoholkonsum allein oder bedingt durch den Konsum von Tabak und Alkohol aus. Gesundheitsschäden treten nicht nur bei Abhängigen auf. Auch wer aus Gewohnheit häufig Alkohol trinkt und das risikoarme Limit überschreitet, schädigt seinen Körper und senkt die Lebenserwartung deutlich.

Hilfe Alkoholabhängigkeit ist der häufigste Grund für die Beratung und Behandlung in einer Suchthilfeeinrichtung. Schnelle und unkomplizierte Unterstützung bekommen Betroffene in Backnang zum Beispiel bei der Caritas, Albertstraße 8. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bieten ambulante Suchtbehandlungen mit Gruppentherapie, Einzelgespräche sowie Selbsthilfegruppen an und vermitteln gegebenenfalls an Therapeuten weiter. Mehr Infos unter 07191/91156-0 sowie online unter www.caritas-ludwigsburg-waiblingen-enz.de. Selbsthilfegruppen für Betroffene und Angehörige bietet auch der Kreuzbund in Backnang an. Mehr Infos unter http://www.kreuzbund-backnang.de.

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Erstellt:
10. November 2021, 06:00 Uhr

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