Nio will mehr als ein Autobauer sein

Der chinesische Elektroautohersteller bietet seinen Kunden Clubs, rollende Ladestationen und Wechselbatterien

Zukunftstechnik - Das chinesische Start-up Nio geht neue Wege im Geschäft mit Elektroautos. Derzeit läuft es allerdings nicht so richtig rund. US-Investoren sehen sich getäuscht und verlangen Schadenersatz.

Shanghai Der Wolkenkratzer Shanghai Tower ist mit 632 Metern das dritthöchste Bauwerk der Welt. Im Erdgeschoss dieses spektakulären Riesen hat der junge chinesischeAutohersteller Nioim vorigen Sommer ein weiteres Nio House eröffnet. Es ist eine Mischung aus Showroom und Club. Im Ausstellungsraum stehen zwei bullige Geländewagen mit Elektroantrieb. Nebenan im Club gibt es eine Kaffeebar. In hellen Holzregalen stehen locker aufgereiht Bücher neben einem Blumentopf und einem kleinen Holzelefanten. Zwei Mädchen haben auf Barhockern Platz genommen und ihre Laptops aufgeklappt.

„Nio ist mehr als ein Autohersteller“, hebt der Nio-Manager Charlie Zhang hervor, als er einer Besuchergruppe aus Deutschland das Unternehmen vorstellt. Das Start-up will nicht nur Fahrzeuge verkaufen, sondern ein enges Beziehungsgeflecht schaffen. Mit exklusiven Clubs wie im Shanghai Tower soll ein Zusammengehörigkeitsgefühl aufgebaut werden, damit die Kunden, anders als in China üblich, der Marke treu bleiben.

Diesem Ziel dienen auch mehrere Apps, mit denen die Kunden sich von Mitarbeitern beraten lassen, einen Termin ausmachen, vielfältige Waren kaufen oder Ladestationen finden können. Auch die Kunden sollen miteinander chatten oder Urlaubsvideos hochladen. Neue Wege geht Nio auch bei der Lade-Infrastruktur. Das Unternehmen hat eigene mobile Ladestationen, die flexibel eingesetzt werden können, wo sie gerade gebraucht werden, und baut auch entlang der Fernstraßen ein Netz von Stationen auf, an denen Kunden leere Batterien rasch gegen volle auswechseln können.

Nio wurde erst 2014 gegründet und sieht sich als globales Start-up. „Wir können nicht erwarten, dass die besten Talente alle zu uns nach China kommen“, sagt Zhang. Designer, Entwickler und Produktionsteams arbeiten nicht nur in Peking und Shanghai: Im kalifornischen San José geht es vor allem um Software und die Entwicklung des autonomen Fahrens, in München liegt der Schwerpunkt auf dem Design, in London steht der Rennsport im Mittelpunkt. Mit dem Engagement in der Elektro-Rennserie Formel E will das Unternehmen die junge Marke rund um den Globus bekannt machen, beweisen, dass Spitzenleistungen erbracht werden und keine Billigware produziert wird.

Im vergangenen Sommer startete der Verkauf des ersten Serienmodells: Der ES 8 ist ein Elektrogeländewagen mit sieben Sitzen, der in der Premiumpreisklasse von ­ Tesla antritt. Die Preisliste beginnt bei umgerechnet etwa 60 000 Euro (ohne Subventionen). Der Wagen wird nur in China über das Internet verkauft. In wenigen Monaten soll als kleinerer Bruder der Geländewagen ES 6 auf den Markt kommen. Auf der Automesse in Shanghai zeigte das Unternehmen im April die Studie einer Elektrolimousine, die mit dem Model S von Tesla konkurrieren soll.

In den letzten Monaten hat Nio indes kräftig Gegenwind bekommen, was auch daran liegt, dass auf dem Markt Flaute herrscht. Seit Dezember ist das junge Unternehmen an der Wall Street notiert. Für das vergangene Jahr hat es bei der Vorlage der Bilanz im März einen Verlust von 1,4 Milliarden Dollar (1,2 Milliarden Euro) präsentiert, der doppelt so hoch war wie der Umsatz. „Wir brauchen viel Geld für Forschung und Entwicklung“, erläutert Zhang.

Seit dem vergangenen Monat sieht sich das chinesische Start-up mit Sammelklagen von US-Investoren konfrontiert, die dem Unternehmen irreführende Informationen vorwerfen. Sie beschweren sich unter anderem darüber, dass der Newcomer seinen Plan zum Aufbau eines eigenen Werks auf Eis gelegt habe. Stattdessen sollen die Wagen wie bisher in einem Werk des chinesischen Autobauers JAC vom Band laufen. Irritationen im Netz löste zudem aus, dass am 22. April ein Wagen von Nio in einer Werkstatt in Flammen aufging. Die Ursache ist noch nicht geklärt. Auch Tesla untersucht derzeit einen ungeklärten Fahrzeugbrand in China.

Marktforscher rechnen damit, dass der chinesische Markt trotz der aktuellen Abschwächung auf längere Sicht gute Wachstumsperspektiven bietet. Dies hat dazu geführt, dass ein regelrechtes Gründungsfieber in der Volksrepublik ausgebrochen ist. Neben Nio gehen eine ganze Reihe weiterer Elektroneulinge an den Start, wie etwa die ebenfalls in Shanghai angesiedelten Start-ups Byton und WM Motor.

Die beiden Elektro-Newcomer Arcfox und Aiways wagten sich im März sogar auf den Genfer Autosalon. Zusätzlichen Druck dürfte in den kommenden Jahren aber vor allem machen, dass sämtliche große westliche Marken wie etwa BMW, Daimler und der VW-Konzern eine Elektrooffensive gestartet haben. „The big elephants are turning around“, sagt Zhang – die großen Elefanten schlagen eine neue Richtung ein. Der Nio-Manager hofft, dass sein Start-up einen technischen Vorsprung hat, wenn diese Elefanten im nächsten Jahrzehnt auf den gleichen Pfaden trampeln wie die kleinen Newcomer. VW-Chef Herbert Diess sieht die Gründungswelle recht gelassen und weist auf den hohen Finanzierungsbedarf beim Aufbau des Geschäfts in der Autobranche hin. „Der Einstieg in unseren Markt ist ein Milliardenprojekt“, sagt Diess. Dabei gehe es nicht um eine oder zwei, sondern eher um zehn oder 20 Milliarden Euro. „Ich glaube, dass wir auch gegen die neuen Angreifer, die zugegebenermaßen an der einen oder anderen Stelle schneller sind als wir, eine gute Chance haben“, meint der VW-Chef selbstsicher.

Der Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer, Chef des Forschungsinstituts CAR an der Universität Duisburg-Essen, sieht die neuen Wettbewerber deutlich besser positioniert als jene chinesischen Autobauer, die Mitte des vorigen Jahrzehnts versuchten, mit Fahrzeugen wie dem Geländewagen Landwind westliche Märkte zu erobern. Landwind scheiterte katastrophal in einem Crashtest.

„Es ist eine zweite Welle von Unternehmen, die deutlich professioneller ist als die erste“, sagt Dudenhöffer. „Nach meiner Einschätzung werden nicht alle gewinnen, aber ein paar werden übrig bleiben, und die werden schon interessant sein.“ An fehlendem Geld werde es jedenfalls kaum scheitern, so Dudenhöffer, weil die Newcomer zum Teil Staatskonzerne im Rücken hätten oder Unterstützung von privaten Investoren wie den Elektronik- und Internetriesen Huawei, Tencent oder Baidu erhielten.

https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.elektroautos-in-china-spezielle-spielregeln.d359c4af-c674-46bb-b807-aa16b1a9b548.htmlhttps://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.china-vorreiter-bei-der-elektromobilitaet-das-elektro-wunder-von-shenzhen.c0ab8c4d-4dfa-402d-a072-94e086c02d63.html

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Erstellt:
6. Mai 2019, 02:04 Uhr

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