Lieferengpass bei Medikamenten

Ohne Tabletten, ohne Halt

Das Medikament Quetiapin Retard hilft Menschen, die unter Depressionen leiden. Doch seit vielen Monaten gibt es einen Lieferengpass. Eine Betroffene erzählt.

Sabine Jentscheck  litt nach dem Wegfall von Quetiapin Retard unter massiven Schlafstörungen.  Inzwischen ist sie auf eine neue Medikation umgestellt.

© ZfP-Gruppe

Sabine Jentscheck litt nach dem Wegfall von Quetiapin Retard unter massiven Schlafstörungen. Inzwischen ist sie auf eine neue Medikation umgestellt.

Von Babett Gumbrecht

Immer wieder die dunklen Dämonen. „Seit ich denken kann“, sagt Sabine Jentscheck, „leide ich unter Depressionen und posttraumatischer Belastungsstörung.“ Als sie vier Jahre alt ist, nimmt sich ihre Mutter das Leben. Geredet wird nie darüber in der Familie. Das Schweigen habe zu einer tiefen Trauer geführt – und später zu einer Depression, sagt sie.

Jahre vergehen, ohne dass es ihr besser geht. Bis sie vor fünf Jahren ein Medikament entdeckt, das ihr dauerhaft hilft: Quetiapin Retard. Doch im Juni 2024 versetzt ihr die Auskunft des Apothekers in ihrem Heimatort einen Schock: „Es hieß, es gebe einen Engpass.“ Sie ist wie erstarrt. „Was soll ich nur machen?“, fragt sie sich.

Quetiapin Retard ist für viele psychisch Kranke wichtig

Bis heute gibt es die Lieferengpässe für Quetiapin Retard. „Sie sind die Folge hoher Überverkäufe aufgrund von Lieferproblemen bei Mitbewerbenden“, erklärt ein Sprecher der Deutschland-Zentrale von Teva Pharmaceutical in Ulm, einem der weltweit größten Arzneimittelhersteller. Überverkäufe entstehen, wenn ein Medikament beispielsweise über mehrere Plattformen verkauft wird, obwohl der Lagerbestand gar nicht ausreicht, um alle Bestellungen zu erfüllen, heißt es bei der Europäischen Arzneimittelagentur.

Lieferschwierigkeiten bei Medikamenten sind keine Seltenheit, berichtet Eva Kolwe, Leiterin der Medikamentenversorgung im Südwürttembergischen Zentrum für Psychiatrie (ZfP). „Das kennen wir schon aus Corona-Zeiten mit Fiebersäften oder aus der Kinderheilkunde.“

Das Medikament Quetiapin Retard ist für viele psychisch Kranke sehr wichtig. Im Jahr 2024 waren rund 1,2 Millionen Menschen in Baden-Württemberg von Depressionen betroffen. Laut der Kassenärztliche Vereinigung nahmen allein im Südwesten 2024 rund 30 000 Patienten die Retard-Tablette ein. In psychiatrischer Behandlung und mit regelmäßiger Einnahme von Medikamenten sind Depressionen und andere psychische Erkrankungen wie Schizophrenie oder Bipolare Störung gut behandelbar.

Zwang zur Therapieumstellung

Normalerweise sind Kliniken, Apotheken, Ärzte und auch das Bundesinstitut für Arzneimittel auf Engpässe vorbereitet. Das Institut führt eine entsprechende Datenbank, oft gibt es auch Ausweichpräparate, die es Patienten ermöglichen, ihre Therapie wie gewohnt fortzusetzen.

Doch bei Quetiapin Retard gibt es keine Alternative. Quetiapin kann zwar auch als Filmtablette eingenommen werden, das bedarf aber einer Therapieumstellung. Denn der Zusatz „Retard“ bedeutet, dass der Wirkstoff über einen längeren Zeitraum freigesetzt wird und eine Einnahme meist nur einmal täglich nötig ist. Das hilft den Patienten, leichter einen gleichmäßigen Blutspiegel zu erreichen und Nebenwirkungen zu minimieren. Besonders bei gravierenden psychischen Erkrankungen fällt es den Patienten oft schwer, sich an eine regelmäßige Einnahme zu halten. Mit fatalen Folgen.

„Als das Medikament von jetzt auf gleich bei mir weggebrochen ist, hatte ich massive Schlafstörungen“, sagt Sabine Jentscheck. Plötzlich habe sie nur noch zwei, drei Stunden geschlafen – und das auch noch mit Unterbrechungen. „Oft musste ich nachts aufstehen und Tabletten nachnehmen.“

Bettina Jäpel, Psychiaterin und Psychotherapeutin beim ZfP, kennt diese Sorgen. „Viele waren auf den Retard-Wirkstoff eingestellt und konnten damit gut schlafen, auch bei unterschiedlichen Diagnosen.“ Diese Patienten habe man auf ein anderes Medikament umstellen müssen.

„Ein großes Problem“

Die Folgen des Lieferengpasses werden durchaus unterschiedlich bewertet. „Zu beachten ist“, heißt es etwa vom Institut für Arzneimittel, „dass in den meisten Fällen bei dem Engpass der Quetiapin-Retardtablette mit dem gleichen Wirkstoff als Filmtablette weiterbehandelt werden kann und eine Therapieumstellung in der Mehrzahl nicht erforderlich sein wird.“ Im vergangenen Jahr bekamen landesweit 77 841 Patienten die Filmtablette verordnet.

Die AOK Baden-Württemberg erklärt dazu: „Ein Lieferengpass bedeutet nicht automatisch einen Versorgungsengpass. In vielen Fällen gelingt es durch Austauschpräparate, pharmazeutische Beratung und die Zusammenarbeit aller Beteiligten im Versorgungssystem, die Behandlung der Versicherten ohne Unterbrechung sicherzustellen.“

Viele Betroffene, behandelnde Psychiater und Apotheken schätzen die Lage anders ein. Eine gute Zusammenarbeit im Versorgungssystem, vor allem zwischen Apotheken, sieht Eva Kolwe vom ZfP nicht: „Vom Gesetzgeber sind klinische und private Apotheken getrennt. Wir können uns bei einem Engpass zum Beispiel nicht untereinander aushelfen. Darin liegt ein großes Problem.“

Die Produkte kommen aus Ostasien

Auf Ausweichmedikamente im Ausland zurückzugreifen, war in der Vergangenheit eine Möglichkeit. Die strittige Frage, ob diese von den Krankenkassen übernommen werden, ist das eine Problem. Das andere: „Der Lieferengpass tritt global auf und ist nicht auf den deutschen Arzneimittelmarkt begrenzt“, schreibt die AOK. Die Apothekerin Kolwe erklärt die Hintergründe: „Die gesamte Herstellung der Arzneimittel, vom Wirkstoff bis zum fertigen Präparat, passiert ganz häufig in Ostasien.“ Insbesondere China und Indien seien hier die Haupthersteller. „Deutschland ist schon lange nicht mehr die Apotheke der Welt“, sagt Kolwe.

Zu Engpässen kann durch die Globalisierung mittlerweile schon ein verunglücktes Containerschiff führen. Speziell im Fall Quetiapin Retard ist der Grund für den Lieferengpass eine erhöhte Nachfrage, durch hohe Überverkäufe wurde die Lage noch verschlimmert. „In der ersten Firma gab es ein Problem bei der Herstellung. Das hat dann zu einem gewissen Dominoeffekt geführt”, erklärt Kolwe. Perspektivisch könnte sich ein Ende des Engpasses abzeichnen: „Gemäß den Meldungen der pharmazeutischen Unternehmen mit dem größten Marktanteil sollten erste Warenmengen demnächst zur Verfügung stehen“, schreibt das Bundesinstitut für Arzneimittel.

Sabine Jentscheck ist mittlerweile auf eine andere Medikation eingestellt. Gelungen ist ihr das nach einem „wochenlangen Kampf“. Eine Rückumstellung kommt für sie nicht mehr infrage: „Bei mir funktioniert es jetzt wieder mit dem Durchschlafen.“ Eine weitere Umstellung dauere Wochen und bedeute immer die Konfrontation mit den jeweiligen Nebenwirkungen. Auch bei Quetiapin Retard ist die Liste lang: Gewichtszunahme, Schwindel, Beeinträchtigung des Herzrhythmus, starke Müdigkeit, um nur ein paar zu nennen. „Es gibt eine große Menge an gemeldeten Nebenwirkungen, die bei unterschiedlichen Personen unterschiedlich stark ausfallen“, sagt Eva Kolwe.

Krise durch Lieferengpass

Sabine Jentscheck ist es gelungen, zur Normalität zurückzufinden. Sie arbeitet seit Kurzem als Genesungsbegleiterin in der Klinik am ZfP-Standort Biberach. Hier begleitet sie Menschen, die sich in einem Genesungsprozess nach einer psychischen Erkrankung befinden. Voraussetzung für die Stelle ist, dass man selbst mit einer psychischen Erkrankung lebt oder diese überwinden konnte. So wird ein besonderes Vertrauensverhältnis zu den akut Betroffenen geschaffen.

Die Arbeit gebe ihr zusätzliche Stabilität, sagt Sabine Jentscheck. Die Krise durch den Lieferengpass habe sie nur durchgestanden, weil sie sich über die Jahre ein Auffangnetz schuf. „Ich bin auch glücklicherweise hier am ZfP gut angebunden, außerdem hatte ich noch einen kleinen Vorrat zu Hause.“ Anderen Betroffenen gehe es aber nicht so: „Ich denke, für einen Patienten, der in einer ganz normalen Praxis behandelt wird, wo man wochenlang auf einen Termin warten muss, kann der Lieferengpass ein echtes Problem werden.“

Es muss mit weiteren Engpässen gerechnet werden

Auch wenn das Bundesinstitut, die AOK und Pharmaunternehmen betonen, dass der Engpass bald ein Ende haben dürfte, fordern Expertinnen wie Kolwe und Jäpel eine dauerhafte, strategische Lösung zur Vermeidung künftiger Lieferengpässe. „Es braucht eine Plattform, auf der diese Informationen besser zusammenlaufen“, sagt Kolwe.

Bettina Jäpel steht im Austausch mit ihren Kollegen. „Wir wollen als Psychiater eine Liste versorgungsrelevanter Medikamente erstellen, die gibt es für unser Fach bisher nicht. Wir müssen politisch mehr Druck aufbauen.“ Der Fokus solle dabei auch darauf liegen, die Arzneimittelproduktion wieder vermehrt nach Europa zu verlegen. Die Globalisierung habe Deutschland vom internationalen Markt abhängig gemacht, was mittlerweile ein Problem sei. „Ich beobachte mit Sorge die Spannung zwischen Pakistan und Indien“, sagt Eva Kolwe. Ein Krieg würde auch den Export von Medikamenten aus Indien hemmen. Dann müsse man mit weiteren Engpässen rechnen.

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Erstellt:
11. Juni 2025, 12:50 Uhr

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