Prozess in Backnang: 100 Arbeitsstunden und nicht zurück ins Gefängnis

Trotz einer langen Latte an Straftaten lässt das Backnanger Amtsgericht gegenüber einem 20-Jährigen Milde walten.

Backnanger Amtsgericht lässt Milde walten. Symbolbild: BilderBox - Erwin Wodicka

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Backnanger Amtsgericht lässt Milde walten. Symbolbild: BilderBox - Erwin Wodicka

Von Jutta Rieger-Ehrmann

Backnang. Der Angeklagte, der sich vor dem Amtsgericht Backnang für eine lange Liste an Vorwürfen zu verantworten hatte, war aus der U-Haft überstellt worden. Vorgeworfen wurden ihm verschiedene Fahrten mit Zug und S-Bahn ohne Fahrausweis, ein Faustschlag gegen einen Mitbewohner in einer Asylunterkunft im Remstal, Hausfriedensbruch und Bedrohung einer Mitarbeiterin im Landratsamt, Sachbeschädigung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte samt Körperverletzung in zwei Fällen, unerlaubte Wiedereinreise nach Abschiebung sowie das Erschleichen von Leistungen.

Über seine Anwältin räumte er alle Taten ein und ließ eine Entschuldigung aussprechen. Es tue ihm sehr leid, er habe sich falsch verhalten und überreagiert. Zum Zeitpunkt der Taten, die sich alle auf das Jahr 2021 beziehen, sei der heute 20-Jährige altersbedingt auch des Öfteren aufbrausend gewesen, so seine Anwältin weiter.

Durch das Geständnis konnte das Verfahren verkürzt und konnte die Zahl der Zeugen deutlich reduziert werden. Ein Zeuge, ein Polizeibeamter aus Waiblingen, sagte aus, dass er bei seinem Einsatz im Landratsamt von dem Angeklagten einen Faustschlag gegen das rechte Auge erhalten habe. Alle Versuche, den 18-Jährigen zu beruhigen und zum Gehen zu bewegen, seien vergeblich gewesen. Bleibende Schäden habe er nicht davongetragen, nur einige Tage ein Veilchen. Einem weiteren Zeugen, der aufgrund einer Erkrankung nicht erscheinen konnte, wurde bei einem anderen Vorfall ein Zahn beschädigt.

Der Angeklagte will keine Hilfe

Der 20-Jährige wollte Angaben zur Person machen, was sich allerdings schwierig gestaltete, zum einen aufgrund der Sprachbarriere, zum anderen wegen einiger Erinnerungs- und Wissenslücken. Zu erfahren war, dass er 2002 in Nigeria geboren worden und seit einigen Jahren in Deutschland sei. Auch seine Familie lebe an verschiedenen Orten in Deutschland, mit seinen Geschwistern habe er Kontakt, wo seine Eltern sind, wisse er nicht. Seit einem Jahr wohne er in einer Umlandgemeinde und sei Schüler einer beruflichen Schule, wo er jedoch Probleme mit den Lehrern gehabt habe. Er erhalte Schüler-Bafög und sein Ziel sei es, weiter auf die Schule zu gehen und dann zu arbeiten. Hilfe möchte der Angeklagte nicht annehmen, weder von seinen Verwandten noch von einem Dolmetscher oder Sozialarbeiter. Er wolle allein sein und alles selbst regeln. Eine Bahncard habe er jetzt auch. Bei Problemen wende er sich an seinen Rechtsanwalt.

Der Vertreter der Jugendhilfe bestätigte dies und berichtete von zwei kurzen Kontakten zu dem Angeklagten. Da dieser ihm gegenüber keine Angaben machen wollte, könne er keinen Jugendbericht abgeben. Anfangs habe sich ihm daher die Frage gestellt, ob bei dem jungen Mann nicht doch zu wenig Einsicht und „schädliche Neigungen“ vorhanden seien. Diese Ansicht habe er inzwischen revidiert, auch weil seit Ende 2021 von dem 20-Jährigen keine Straftaten mehr begangen wurden. Im Bundeszentralregister hat er drei strafrechtlich relevante Einträge. Hinsichtlich der Tatsache, dass der Angeklagte in dem fraglichen Tatzeitraum Heranwachsender und weder, was die Lebensverhältnisse, noch was seine persönliche Reife angeht, gefestigt und unabhängig war, plädierten alle Beteiligten für die Anwendung des Jugendstrafrechts.

Staatsanwältin sah Schuld als erwiesen an

Die Staatsanwältin sah die Schuld des Angeklagten in allen Punkten als erwiesen an. Einerseits seien die Taten und deren Häufung im Jahr 2021 eindeutig mehr als nur jugendliche Unbeherrschtheit und mit teilweise erheblichen Folgen für die Geschädigten verbunden gewesen, auf der anderen Seite lägen sie auch schon etwas zurück. Sie plädierte für 120 Arbeitsstunden. Von weiteren Maßnahmen wie einem sozialen Trainingskurs sehe sie aufgrund der Persönlichkeit des 20-Jährigen ab. Auch die Rechtsanwältin schlug Arbeitsstunden als eine angemessene Maßnahme vor. Nun hatte der Angeklagte das letzte Wort – und einen Wunsch. Er entschuldigte sich nochmals für sein Fehlverhalten. Er freue sich jetzt auf seine Freiheit, auf das Treffen mit Freunden, gutes Essen und eine Dusche.

Unter Berücksichtigung aller Umstände wie Flucht oder Sprach- und Schulprobleme ordnete der Richter 100 Arbeitsstunden an, abzuleisten innerhalb eines halben Jahres, verbunden mit der Ermahnung, dass bei Nichteinhaltung „ein Ungehorsamkeitsarrest“ verhängt werden könne, und dem Appell: Keine weiteren Straftaten mehr. Zusätzliche erzieherische Maßnahmen seien derzeit nicht zielführend, auch weil die einmonatige U-Haft einen bleibenden Eindruck hinterlassen habe und als solche gewertet werden könne, erklärte der Richter.

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Erstellt:
24. April 2023, 06:00 Uhr

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