Raketen fliegen durchs Planetarium

Ab 2019 können Besucher der Sternenschau live ins Geschehen an der Kuppel eingreifen – und einiges über Weltraumschrott lernen

Neuheit - Normalerweise bekommen die Besucher des Planetariums Sternen­bilder und Planeten erklärt. Eine Stuttgarter Agentur will die Sternenschau nun revolutionieren und interaktive Inhalte anbieten. Im ersten Anlauf geht es um Weltraumschrott.

Stuttgart Unzählige Raketen starten, fliegen Zielpunkte an, setzen Satelliten ab. Der Himmel füllt sich mit rasender Geschwindigkeit. Mit der Zeit entsteht eine Menge Weltraumschrott. Gesteuert werden die Raumschiffe jedoch nicht von Wissenschaftlern in den Kontrollräumen von Nasa oder Esa – also der amerikanischen oder der europäischen Weltraumagentur. Die Piloten sitzen in Stuttgart, bequem zurückgelehnt in Stoffsesseln mit einem Smartphone in der Hand.

Der Bildschirm, auf dem sich dieses interaktive Spektakel abspielt, ist größer als jeder Flachbildfernseher. Der digitale Spielplatz ist die 13 Meter hohe Kuppel des Planetariums – eine Weltneuheit. Neun Projektoren müssen für das gigantische Videospiel in Echtzeit zusammenarbeiten. 2019 soll das von der Stuttgarter Agentur Halbautomaten entwickelte Spiel fester Bestandteil des Programms im Planetarium am Schlossgarten werden.

Der Ablauf ist denkbar einfach: Man setzt sich in einen der 270 Sessel. Mit dem Smartphone ruft man eine Internetseite auf und aus dem Bildschirm des Telefons wird eine Steuereinheit. Die eigene Rakete wird immer von derselben, nummerierten Abschussrampe gestartet. Die Steuerung funktioniert nach ein paar Minuten recht einfach – selbst beim dichtesten Getümmel an der Kuppel kann man dem digitalen Flugobjekt problemlos folgen. Sollte die kleine weiße Rakete doch einmal verloren gehen, kann man sie leuchten lassen, um sie wieder zu finden. Hilft selbst das nicht mehr, kann man einfach von der gleichen Plattform aus erneut in den virtuellen Orbit starten.

Michael Scholz und Sebastian König sind die Geschäftsführer der Design- und Kommunikationsagentur Halbautomaten. Die Firma mit ihren zehn Mitarbeitern sitzt unweit der Karlshöhe. Das Projekt, an dem sie derzeit mit Hochdruck arbeiten, ist sowohl von der Idee als auch technisch eine Neuerung. Zum einen gilt es neun Projektoren auf einem gewölbten Bildschirm zu synchronisieren und live mit Daten zu füttern, die bis zu 270 Spieler in Echtzeit erzeugen. Zum anderen findet bei einem Programm mit derart vielen Teilnehmern sowohl Interaktion auf dem Kuppelbildschirm als auch im realen Saal statt. „Das Ganze hat Elemente von Schwarmverhalten“, sagt Scholz, „soweit wir wissen, handelt es sich bei unserer Idee um eine Weltneuheit.“

Der Prototyp ihrer Entwicklung beschäftigt sich mit dem Kessler-Effekt. So wird das Problem des zunehmenden Weltraumschrotts in Fachkreisen genannt. Immer mehr Satelliten werden im All abgesetzt, es kommt zu Kollisionen. Dadurch entstehen kleine Splitter, die wiederum mit irrsinniger Geschwindigkeit durchs All fliegen und Satelliten beschädigen und so noch mehr Weltraumschrott produzieren. „Das ist ein reales Problem, das Nasa und Esa derzeit sehr beschäftigt und das die Besucher des Planetariums durch unsere Erfindung am eigenen Leib erfahren können“, sagt König.

Das Programm funktioniert so: Mit dem kleinen Joystick auf dem Handy-Bildschirm startet man seine kleine weiße Rakete. Jeder Teilnehmer fliegt nun Zielpunkte an, die in den Sternenhimmel an der Planetariumskuppel projiziert werden. Erreicht man nun einen der Zielpunkte, setzt die Rakete einen kleinen grünen Satelliten ab, der fortan auf seiner eigenen Bahn durchs virtuelle All fliegt.

Das Programm der Stuttgarter Agentur krempelt die Technik, die üblicher Weise in Planetarien verwendet wird, grundlegend um. „Traditionell werden Planetarien von einem großen, kugelförmigen Projektor erleuchtet, der wie in Stuttgart aus der Mitte des Saales herauswächst“, sagt König. Dieser Apparat funktioniert im Grunde wie ein überdimensionierter Diaprojektor. „Die Auflösung, der Kontrast und die Bildqualität sind überragend, es lassen sich aber keine bewegten Bilder zeigen“, so Scholz. In den vergangenen 20 Jahren wurden Planetarien daher mit digitalen Projektoren nachgerüstet. „In Stuttgart gibt es neun Stück, was schon sehr viel ist“, sagt Scholz. Doch genau das macht Livebilder oder gar ein Eingreifen des Publikums in Echtzeit extrem schwierig.

Ebenfalls neu und mindestens ebenso herausfordernd ist es, die Interaktion von mehreren Hundert Menschen auf einem Bildschirm übersichtlich zu gestalten. „Wir wollen mit unserer Technik gar nicht in die Ecke von Videospielen gestellt werden. Uns geht es um das Vermitteln von wissenschaftlichen Inhalten auf eine neue, interaktive Art“, sagt König. Es mache nach ihrer Erfahrung einen großen Unterschied, ob Menschen einen vorab fertiggestellten Vortrag über ein Problem wie Weltraumschrott anschauen oder ob jeder Einzelne selbst erlebt, dass der Raketenstart nach einiger Zeit unmöglich wird, weil der Raum am Himmel zu voll geworden ist.

Dabei sind die Chefs der Agentur Halbautomaten nicht auf Weltraumthemen fixiert. „Durch die Masse an Menschen, die hier miteinander interagiert, lassen sich viele extrem spannende Effekte ausprobieren“, sagt Scholz. „Schulklassen könnten beispielsweise live erleben, wie ein Aggregatzustand funktioniert“, sagt König.

Eine weitere Idee, die die beiden Agenturchefs in der Hinterhand haben, könnte so funktionieren: Die 270 Menschen im Publikum repräsentieren je ein Molekül. „Wenn sich keiner regt, haben wir den Zustand fest. Wasser ist gefroren“, sagt Scholz. Je eifriger die Teinehmer nun mit dem Programm interagieren, desto mehr bewegen sich die Moleküle – das Wasser wird flüssig und am Ende zu Dampf. „Auch das Verhalten großer Tierschwärme ließe sich auf diese Art erlebbar machen“, sagt König.

Das Erklären komplexer Vorgänge mithilfe technischer, digitaler Darstellungen ist das Alltagsgeschäft der Agentur. „Wir machen eigentlich moderne Bedienungsanleitungen“, erzählt Scholz. Die Kundschaft sind etwa die großen Maschinenbauer der Region. „Diese Produkte erklären sich nicht von selbst“, sagt Scholz. Wichtige Bauteile aus dem Inneren von Motoren ließen sich im analogen Zeitalter noch allein mittels komplexer Diagramme und technischer Zeichnungen erklären. „Wir stellen die Funktion und Position dieser Teile in dreidimensionalen und interaktiven Programmen dar“, sagt König. „Das kann den Herstellern helfen, denn deren Kunden fallen durch unsere Hilfe Einbau und Wartung leichter.“

Die Verantwortlichen des Stuttgarter Planetariums freuen sich auf die Neuerung. „Wir versprechen uns durch diese Weltpremiere eines vollständig interaktiven Planetariumsformates Interesse und Zulauf neuer und junger Besucher“, sagt der Technische Leiter und stellvertretende Direktor Ubbo Grassmann. In welchem Rahmen und in welchem Umfang das interaktive Multiplayer-Erlebnis in den normalen Spielplan eingebettet werde, sei aktuell noch nicht ganz klar, so Grassmann weiter. „Sicher ist aber: Frühestens ab April 2019 kann es losgehen“, sagt der stellvertretende Direktor.

Das Programm der Halbautomaten endet mit dem Aufräumen des Weltraums. Jeder Besucher kann mit seiner Rakete helfen, den Weltraum zu säubern. Das geht so: Man kann die Rakete entweder mit einem Netz oder einem Magneten ausstatten. Die kaputten Satelliten werden so entweder eingesammelt oder so weit abgebremst, dass sie abstürzen und in der Umlaufbahn der Erde verglühen. „Das sind Ideen, über die Nasa und Esa tatsächlich im Moment nachdenken“, sagt Scholz.

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Erstellt:
27. Dezember 2018, 03:14 Uhr

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