Krieg in der Ukraine
Russland erobert Kleinstadt mit Namen der US-Metropole New York
Russische Truppen haben die ukrainische Kleinstadt mit dem Namen der US-Metropole erobert – eine Wegmarke ihrer Sommeroffensive auf die operativ wichtige Stadt Pokrowsk.

© Till Mayer
Soldaten der ukrainischen Armee sitzen in einem unterirdischen Versteck und steuern Drohnen über dem Schlachtfeld bei Bachmut.
Von Franz Feyder
Russland hat New York erobert. In der vergangenen Woche. Da nahmen russische Elitesoldaten der 3. Speznaz-Brigade erst den Stadtrand ein und stießen dann schnell ins Zentrum vor. Ihnen folgten beiderseits der Eisenbahntrasse die 20. und 111. Mechanisierte Brigade und warfen die Verteidiger schnell nieder – dann war die ukrainische Kleinstadt unweit von Donezk wieder unter Kontrolle der russischen Soldateska.
9735 Seelen zählte der Bürgermeister der im 19. Jahrhundert von deutschen Mennoniten gegründeten Siedlung 2022. Ein reiches Städtchen: eine Mehlmühle, eine Mechanikfabrik, eine Eisengießerei und ein Werk, das den für die Kunststoffherstellung wichtigen Ausgangsstoff Phenol herstellt, sorgten für Arbeitsplätze und Wohlstand.
Ein Unternehmer – so die Legende – habe 1859 seine kleine Fabrik und die 13 Haushalte drumherum New York genannt – aus Liebe zu seiner aus der US-Metropole stammenden Frau. Die ukrainische Schwesterstadt ist heute für Russlands Sommeroffensive im Süden des Landes nur eine wenig bedeutende Etappe auf dem Weg in die operativ wichtige Stadt Pokrowsk, dem Eisenbahnknotenpunkt an der Südfront.
So ist die Lage aktuell an der mehr als 1200 Kilometer langen Frontlinie:
Was geschieht um die Stadt Pokrowsk?
Seit dem 17. Juli 2024 belagern russische Truppen das Verkehrs- und Industriezentrum des Donbass. Dafür hat der russische Diktator die 2., die 29. und die 51. Armee – insgesamt etwa 110 000 Mann – im Süden und Südwesten zusammengezogen. Bislang verhinderten 45 000 ukrainische Verteidiger, dass die Stadt erobert wurde, in der einmal 53 000 Menschen lebten und über der das ganze Jahr der Geruch frisch geförderter Kohle liegt. Fällt die im Süden stark zerstörte Stadt, bietet sie den Russen vor allem zwei operative Optionen: Zum einen destabilisiert sie die Front im Westen der lange und erbittert umkämpften Stadt Bachmut. Zum anderen würde eine Eroberung einen strategischen russischen Vorstoß auf die Millionenstadt Dnipro eröffnen, der viertgrößten Stadt der Ukraine – einem ihrer Rüstungszentren.
Gelingt es den ukrainischen Streitkräften, Gelände gegen die Russen zurückzugewinnen?
Vor allem die mit dem deutschen Kampfpanzer Leopard 2A4 ausgerüstete 155. Brigade verteidigt mit Gegenstößen und kleinen Gegenangriffen sehr erfolgreich einen der Schwerpunkte im Südwesten Pokrowsks. Dabei erobert sie auch Gelände zurück. Der nach Anna von Kyiv, der zwischen 1051 und 1060 regierenden, aus der ukrainischen Hauptstadt stammenden französischen Königin benannte Großverband wurde in Frankreich und Polen ausgebildet. Er zeigt, dass die Verteidigung erfolgreich beweglich geführt werden kann, obwohl die Ukraine sich seit jetzt drei Jahren vor allem mit Blick auf Kampf- und Kamikazedrohnen in starren Feldbefestigungen und hinter Minenfeldern verschanzt. Die Brigade erfüllt inzwischen alle an Verbände der Nato gestellten Anforderungen. Ähnliche Erfolge verzeichnen bei Prokowsk auch die mit den deutschen Leopard 1A5 ausgerüstete 5. Brigade und die 44. Brigade.
Was passiert an den anderen Abschnitten der Südfront?
Die Anfang Juni begonnene russische Sommeroffensive an der Südfront gilt inzwischen als gescheitert. Westliche Nachrichtendienste und oppositionelle russische Quellen schätzen die täglichen russischen Verluste auf 1000 bis 1200 tote und 3000 verletzte Soldaten. Insgesamt sollen seit Beginn der Sommeroffensive am 1. Juni zwischen 40 000 und 48000 Russen ihr Leben verloren haben. Seit Mai sollen die insgesamt sieben im Süden der Ukraine angreifenden Armeen etwa 556 Quadratkilometer Gelände auf der mehr als 1200 Kilometer langen Frontlinie erobert haben.
Welche taktische Neuerung führte Russland ein?
Russische Kommandeure versuchen der Bedrohung durch ukrainische Kleindrohnen durch Geschwindigkeit zu entgehen. Das wollen sie vor allem mit geländegängigen Motorrädern schaffen: Bis zu 16 Soldaten bilden mit sechs bis acht Motorrädern eine Gruppe. Sie soll in die Flanke und den Rücken ukrainischer Stellungssysteme vorstoßen, deren Besatzungen überraschend angreifen und so den infanteristischen Teileinheiten ermöglichen, schnell und ohne Beschuss nachzustoßen. Mindestens ein Motorrad der Gruppe ist mit einem Drohnenerkennungssystem ausgestattet, das den Bereich nach Drohnen absucht. Zudem führen die Gruppen zwei bis drei Störsender mit, die entweder direkt auf den Motorrädern montiert sind oder in Rucksäcken von den Fahrern getragen werden, um während ihres Angriffs angreifende ukrainische Drohnen zu stören. Bislang eine fragwürdige russische Neuerung: Die Verluste sind hoch, die Motorradangriffe zeigen kaum nennenswerte Erfolge: Vor allem deshalb, weil die Angriffe wenig koordiniert sind. Die russischen Einheiten nutzen Enduro-Motorräder vom Typ Sharmax Sport 280, die von einem Unternehmen mit Sitz in Dubai und Produktionsstätten in China hergestellt werden.
Was passiert an anderen Frontabschnitten?
Im Nordosten der Ukraine, im Regierungsbezirk Sumy, hat die Regierung in der vergangenen Woche damit begonnen, Menschen aus etwa 200 Siedlungen zu evakuieren. Zwar gilt der russische Angriff auf die etwa eine Viertel Million Einwohner zählende Stadt als gestoppt. Sie wird seit Wochen unentwegt mit Drohnen bombardiert. Die russische Militärführung führt aus Russland vor allem Luftlandetruppen in diesen Frontbereich, in dem sie etwa 200 Quadratkilometer ukrainisches Staatsgebiet erobert haben. Im Bereich der mit 1,4 Millionen Einwohnern zweitgrößten ukrainischen Stadt Charkiw ist derzeit keine neue Offensive des dort als abgekämpft geltenden 11. russischen Armeekorps (etwa 35 000 Soldaten) zu erwarten.