Stadtgeschichte per App entdecken
„Erinnerungspfade“ heißt eine neue App, die Geschichtsinteressierte in Stuttgart befüllt haben. Sie führt zu Erinnerungsorten in der Stadt.
Von Jan Sellner
Stuttgart - Wer meint, Geschichtsdozenten und -studierende säßen in Elfenbeintürmen, der wird in Stuttgart eines Besseren belehrt. Hier sind sie forschend und fragend in der Stadt unterwegs. Zumindest gilt das für Carsten Kretschmann von der Historischen Fakultät der Uni Stuttgart und eine von ihm betreute Studierendengruppe, die sich mit lokaler Geschichte befasst. Für das Projekt „Erinnerungspfade“, eine neu entwickelte gleichnamige Geschichts-App, haben sie Demokratieorte in Stuttgart ausfindig gemacht, aufgesucht und in kurzen Texten beschrieben. „Das war für die Studierenden Neuland“, sagt Kretschmann. Denn der Sinn der Übung besteht nicht in wissenschaftlichen Abhandlungen, sondern darin, „in die Öffentlichkeit hinein zu kommunizieren“.
Der Lernort Geschichte der Stuttgarter Jugendhausgesellschaft hat darin Erfahrung. Er bietet Kindern und Jugendlichen Führungen, Workshops und Projekte zur Stuttgarter Geschichte an. Von Leiterin Pia Preu stammt die Idee zu der Geschichts-App „Erinnerungspfade“, eine Weiterentwicklung der seit zehn Jahren bestehenden Web-App „Geschichte Online Stuttgart“, in der Schauplätze der Stuttgarter NS-Geschichte sowie Gedenkorte über eine virtuelle Karte angesteuert werden können, ergänzt um Biografien von Opfern, Helfern und Tätern. Die Idee dazu hatten damals vier Schüler.
Die neue „Erinnerungspfade“-App, die nach zweijährigem Vorlauf am Mittwochabend im Hospitalhof vorgestellt wurde, geht deutlich darüber hinaus. Sie verweist auf viele Aspekte der Stadtgeschichte – auf Demokratieorte, koloniale Spuren, Gastarbeitergeschichten, queere Orte und Orte rassistischer Gewalt. Enthalten sind darin auch historische Fotos. „Die App ist multiperspektivisch angelegt“, erläutert Pia Preu. Und sie soll weiter wachsen. Nutzer haben die Möglichkeit, selbst Erinnerungsorte vorzuschlagen; der Lernort Geschichte kuratiert und übernimmt die Pflege der App.
In der Uni Stuttgart, den Stuttgarter Stolperstein-Initiativen, die die Biografien von mehr als 1000 NS-Opfern recherchiert haben, und dem Arbeitskreis Zwangsarbeit hat Pia Preu kompetente Partner gefunden. In der Koordinierungsstelle Erinnerungskultur der Stadt Stuttgart fand sie zudem den notwendigen Geldgeber: 15 000 Euro steuerte die Koordinierungsstelle zur Entwicklung und Programmierung der kostenlosen App bei. Diese enthält verschiedene Funktionen. Der Nutzer kann sich zum Beispiel Stadtspaziergänge zusammenstellen und im Umkreis von 50 Metern relevante Orte anzeigen lassen. Zu jedem Ort gibt es weiterführende Links und Literaturhinweise. Alle Inhalte sind auch auf Englisch verfügbar. Christian Serdarusic von der städtischen Koordinierungsstelle ist mit dem Ergebnis sehr zufrieden. Er sieht in der App „ein Beispiel für die gelungene Zusammenarbeit von öffentlichen und wissenschaftlichen Einrichtungen sowie den lokalhistorischen Gruppen und Initiativen. Hier haben mehrere Träger einen wichtigen Beitrag zur Zukunftsfähigkeit der Stuttgarter Erinnerungskultur geleistet.“
Schöner Nebeneffekt der App: die 25 Studierenden, die an der Übung teilgenommen und Texte für die App verfassten haben, haben selbst viel über Stuttgart gelernt. Neben geschichtsträchtigen Orten, wie dem Leuschnerplätzle, das für das Ende der 1848er-Revolution steht, dem Landtag oder dem Rathaus haben sie auch Theater und die Oper als Orte der Demokratie identifiziert. Ebenso migrantische Orte und Adressen, die man beim Thema Demokratie nicht auf dem Plan hat. Etwa die Wilhelma, wo sich im 19. Jahrhundert die bürgerliche Öffentlichkeit traf „und Bildung als Ressource für Demokratie wirksam gemacht wurde“, wie Kretschmann erläutert. Auch die MHP-Arena taucht in der App als Demokratieort auf. Mira Müller, 20, die an der Uni Stuttgart im vierten Semester Geschichte und Englisch im Lehramt studiert, hat sich in die Geschichte des von Paul Bonatz und Friedrich Eugen Scholer geplanten Stadions vertieft. Es wurde anlässlich des 15. Deutschen Turnfests erbaut und am 23. Juli 1933 als Adolf-Hitler-Kampfbahn eröffnet. Nach dem Krieg entwickelte sich das Stadion zu einem Ort, der sich mit dem demokratischen Neuanfang verbindet. Gerne würde die Studentin dies an Ort und Stelle dokumentiert sehen.
Aufgefallen ist den Studierenden bei ihren Rundgängen auch, dass manche geschichtsträchtigen Orte in der Stadt unbeschriftet sind. „Es gibt etliche Leerstellen“, bestätigt Kretschmann: „Wer kennt schon den Platz der Deutschen Einheit bei der Liederhalle?“ Ein Zusammenhang sei nicht erkennbar, der Platz auch in kein Nutzungskonzept eingespannt, bemängelt der Dozent: „Das ist total verschenkt“. Eine andere Frage, die die Studierenden beschäftigt, lautet: Wie kann man Orte, die nicht im Zentrum Stuttgarts sind, bekannter machen, etwa das Heuss-Haus auf dem Killesberg. Die jungen Leute denken an eine Art „Showroom“ in der City, der Hinweise auf das Heuss-Haus enthält.
Die 20-jährige Mira Müller bestätigt, was Dozent Kretschmann und Pia Preu vom Lernort Geschichte beobachtet haben: das Projekt kam bei den Studierenden sehr gut an. „Das war bereichernd“, sagt die Studentin. Für Kretschmann zeigt sich darin: „Die Sensibilität für Themen wie Demokratie und die drohenden Gefahren wächst.“ Durch ihre Texte leisteten die Studierenden selbst einen aktiven Beitrag zur Erinnerungskultur und zu aktuellen Debatten.
Die „Erinnerungspfade“-App ist in Kürze über den Google Play Store und über den Apple App Store verfügbar.