Stehen die Backnanger Kirchtürme auf der falschen Seite?

Turm ist nicht gleich Turm: Beim Altstadtstammtisch des Backnanger Heimat- und Kunstvereins referiert Klaus J. Loderer über die Kirchtürme in Backnang.

Anders als der Stadtturm oder der Turm der Stiftskirche steht der Turm der Matthäuskirche westlich zum Kirchenschiff. Foto: Alexander Becher

© Alexander Becher

Anders als der Stadtturm oder der Turm der Stiftskirche steht der Turm der Matthäuskirche westlich zum Kirchenschiff. Foto: Alexander Becher

Von Carmen Warstat

BACKNANG. Als treuen Referenten der Altstadtstammtische begrüßte die zweite Vorsitzende des Heimat- und Kunstvereins Brigitte Jacob den Bauhistoriker Klaus J. Loderer, der unter anderem bereits über Mühlen, die Friedhofskapelle, das Postareal und auch Kirchen gesprochen hat. Seine Leidenschaft ist die Architekturhistorie der Region, die der vielreisende Experte selbstverständlich überregional einzuordnen weiß.

Beim 232. Altstadtstammtisch im Helferhaus nun sollte es um Kirchtürme gehen, insbesondere um ihre Positionierung zum Kirchenschiff. „Stehen die Backnanger Kirchtürme überhaupt richtig?“, fragte Loderer. Er „wollte das Thema schon lange machen“, habe es aber wegen anderer Projekte mehrfach verschoben. „Jetzt wollte ich’s dann doch mal vorstellen.“

Gibt es verkehrte Kirchen? Die Frage drängt sich auf, denn in Westfalen beispielsweise muss der Turm sich auf der Westseite des Schiffs befinden. Dem ist aber in anderen Regionen und eben auch im Raum Backnang bei Weitem nicht immer so. Klaus J. Loderer stellt sich die Frage, ob wohl eine bestimmte Bautradition hier in der Gegend dahintersteckt und wenn ja: Welche? Der Stadtturm und der Turm der Stiftskirche etwa befinden sich auf der Ostseite, jener der Matthäuskirche hingegen westlich zum Schiff.

Der „schiefe“ Turm von Backnang

Allerdings unterscheidet man eine Reihe weiterer Turmtypen nach der Stellung zum Kirchenschiff. Neben West- und Ostturm gibt es den frei stehenden Turm, den Dachreiter, den Vierungsturm, den Chorturm und den Chorjochturm. Der Bauhistoriker zeigte Abbildungen von Kirchen mit Osttürmen in Backnang, Murrhardt, Schwäbisch Gmünd, Esslingen, Weil der Stadt, Heilbronn, Klosterreichenbach, Marbach und Murbach im Elsass. Eingeblendete Zeichnungen der romanischen Stiftskirche und des Turms der Michaelskirche von Hellmut G. Bomm verdeutlichten, dass Letzterer im Grundriss achteckig, aber „schief“ beziehungsweise „unregelmäßig“ dasteht. Der Referent bezeichnete dies als markant: „Man hat den Eindruck, dass die Spitze des Stadtturms nicht richtig in der Mitte ist.“

Weiter gab es Chortürme in der Umgebung Backnangs zu sehen, Türme also, die sich über dem (meist nach Osten ausgerichteten) Altarraum befinden, so in Benningen am Neckar, Burgstall, Erbstetten, Großaspach, Großbottwar oder Beihingen.

„Gibt es das Ostseitenphänomen nur in der Gotik?“, fragte der Referent angesichts einer Abbildung der Unterweissacher Kirche. Und: „Sind eventuell Beziehungen des Stifts Backnang zu den Kirchen für die architektonische Gestaltung verantwortlich?“ Leider sei die Literaturliste hierzu sehr kläglich, auch seien keine Tagebücher der Baumeister von damals überliefert.

In Oppenweiler, Kleinbottwar und Steinheim an der Murr zum Beispiel findet man Chorflankentürme, die sich seitlich vom Schiff befinden. Und auch Westtürme hat die Region gelegentlich zu bieten: Die Michaelskirche in Waiblingen mit ihrem achteckigen Turm gelte als Vorbild für das gesamte Remstal. Klaus J. Loderer weitete den Radius allmählich aus, schließlich führte die Bildreise bis nach Anhalt, wo die Chortürme seltener sind, „aber es gibt sie“, etwa in Storkau (Elbe) in der Altmark. Im Prinzip ziehe sich das Phänomen der Vorherrschaft von Chortürmen mindestens bis nach Franken in den Nürnberger Raum, auch Thüringen wurde erwähnt. Vorteile der Chortürme seien die Mauerdicke, die mit dem Altarraum den wichtigsten Teil der Kirche gut schützt, sowie die architektonische Betonung der wichtigsten Stelle der Kirche.

Französische Baumeister in Backnang?

Von Wehrkirchen war die Rede, deren Türme sich sowohl auf der West- als auch auf der Ostseite befinden können. Quadratische Türme mit halbrunder Apsis oder polygonalem Abschluss wurden gezeigt, ebenso wie Türme über dem Chorjoch. Schließlich ging der Referent auf den Backnanger gotischen Chor ein, dessen neunstrahliges Gewölbe sehr ungewöhnlich und selten ist. Loderer sieht hier Parallelen zu französischen Kathedralen und wagte die Spekulation: Es sei möglicherweise eine Verbindung vorhanden. Nicht zuletzt die gestelzten Bögen oder Rippen im Gewölbe ließen es schon vermuten. Es könnte, ja könnte (!) so gewesen sein, dass die Baumeister der Kathedrale von Reims auch in Backnang wirkten. Die Gesellenwanderung war an der Tagesordnung und ausgeschlossen sei nichts, freilich: „Das ist sehr spekulativ!“

Der Referent beendete seine Ausführungen mit dem Wunsch, „dass wir aufmerksamer die schönen, sehenswerten Kirchen in der Region und darüber hinaus anschauen.“

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Erstellt:
15. März 2023, 06:00 Uhr

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