Traumabewältigung für 13,3 Millionen

Die Stadt Backnang arbeitet mit Hochdruck am Hochwasserschutz – Maßnahmen werden sich noch über Jahre hinweg ziehen

Das Hochwasser vom 13. Januar 2011 ist für viele ein Trauma. Der materielle Schaden, den die Wassermassen der Murr und ihrer Nebenflüsse angerichtet haben, beträgt geschätzt 27 Millionen Euro. Alle sind sich einig: Das darf sich nicht wiederholen. Die Backnanger Stadtverwaltung arbeitet deshalb mit Hochdruck an Schutzmaßnahmen. Viele sind bereits umgesetzt, aber längst noch nicht alle. Von den vielen Millionen Euro an Investitionen muss die Stadt selbst 13,3 Millionen aufbringen.

Ein Beispiel von vielen, das bereits realisiert worden ist: Das Tiefufer entlang der Talstraße. In diesem Bereich soll die Murr dank höherer Mauern ihr Bett nicht mehr verlassen können. Fotos: A. Becher

© Pressefotografie Alexander Beche

Ein Beispiel von vielen, das bereits realisiert worden ist: Das Tiefufer entlang der Talstraße. In diesem Bereich soll die Murr dank höherer Mauern ihr Bett nicht mehr verlassen können. Fotos: A. Becher

Von Matthias Nothstein

BACKNANG. Die Murr hat zwei Gesichter. Zum einen ist sie die Mitte und das Herz der Stadt Backnang, in früheren Zeiten war sie gar deren Lebensader und für Industrie und Gewerbe von großer Bedeutung. Auf der anderen Seite gehen von der Murr Gefahren aus, die schnell existenzbedrohend werden können.

Um das Hochwasser der Murr zu bändigen und Schaden von den Bürgern abzuwenden, investiert die Stadt Millionen. Allein der innerörtliche Hochwasserschutz mit Mauern und Dämmen verschlingt 13,5 Millionen Euro, wovon 4,3 Millionen Euro an der Stadt hängen bleiben. Der Neubau von vier Pumpwerken kostet 6 Millionen Euro, wobei die Stadt hierfür keinen Cent Förderung bekommt. Zum Schutz trägt auch das Hochwasserrückhaltebecken Oppenweiler bei. Es wird 20 Millionen Euro kosten, wovon Backnang einen Eigenanteil von 3 Millionen Euro zu schultern hat. „Das Becken von Oppenweiler ist aufgrund seiner Lage und Größe für Backnang eminent wichtig“, so die Einschätzung von Backnangs Baudezernent Stefan Setzer. Nächstes Jahr soll mit dem Bau begonnen werden. Zwei weitere kleine Becken (Seehau und Brunnenwiesen) werden weniger Auswirkung auf die Innenstadtsituation haben. Und die weiteren Rückhaltebecken auf Sulzbacher Markung (Fischbach und Haselbach) sowie oberhalb von Murrhardt (Gaab und Mahd) ohnehin nicht, schließlich liegt da das Oppenweiler Becken dazwischen.

Setzer verteidigt die riesigen Investitionen aus voller Überzeugung. Er erklärt: „Das Schadenspotenzial im Falle eines Hochwassers, wie es einmal in 100 Jahren vorkommt, wäre höher als die Investitionssumme.“ Folgende Maßnahmen sind vorgesehen oder werden bereits gebaut:

Pumpwerke

Geplant sind insgesamt vier Hochwasserpumpwerke. Diese haben die Aufgabe, im Hochwasserfall das Wasser aus den Kanälen in die Murr zu pumpen. Würden sie dies nicht tun, so würde sich in der Kanalisation ein Rückstau bilden, da das Wasser nicht – wie im Normalfall – von alleine in die Murr fließen kann. Die Kanalisation würde volllaufen, sich aufstauen und schlussendlich die Keller fluten. Erhebliche Schäden wären die Folge.

Die Kosten für die Pumpwerke summieren sich auf etwa 6,35 Millionen Euro. Sie setzen sich wie folgt zusammen:

Pumpwerk 3, Obere Walke (im Bau, Fertigstellung 2020): etwa 850000 Euro.

Pumpwerk 5, Talstraße (in Planung, Fertigstellung 2021): 1,90 Millionen Euro.

Pumpwerk 6, Am Kalten Wasser (in Betrieb): etwa 2,35 Millionen Euro.

Pumpwerk 14, Mühlstraße (in Planung, Fertigstellung im Zuge des Projekts Quartier West): 1,25 Millionen Euro.

Mauern und Dämme

Im Stadtgebiet werden laut Planung Mauern mit einer Gesamtlänge von ungefähr 1600 Metern errichtet. Dabei handelt es sich größtenteils um die Erhöhung von bestehenden Mauern mit Stahlbeton sowie die Ertüchtigung bestehender Mauern mit Spritzbetonvorsatzschale, wie zum Beispiel rund um die Aspacher Brücke mit einer grafischen Gestaltung. Zudem sieht der Planfeststellungsbeschluss die Herstellung von Dämmen mit einer Gesamtlänge von rund 800 Metern vor. Diese werden aus bindigem, verdichtungsfähigem Erdmaterial hergestellt. Doch aufgepasst: Im Zuge der IBA’27 soll das bisher im Planfeststellungsbeschluss festgeschriebene Hochwasserschutzkonzept nochmals überprüft werden. Infolgedessen könnte es in diesem Bereich – von der Etzwiesenbrücke flussabwärts – zu einer spürbaren Reduzierung von Dämmen und Wänden kommen.

In vielen Bereichen ist Grunderwerb notwendig. Die Zusammenarbeit mit den privaten Grundstückseigentümern gestaltet sich laut Baudezernent Setzer „ganz überwiegend positiv – von wenigen Ausnahmen abgesehen“. Gerade unter dem Eindruck des Hochwasserereignisses 2011 werde von der überwältigenden Mehrheit der Bürgerschaft die Notwendigkeit der Hochwasserschutzmaßnahmen anerkannt und sogar deren schnellstmögliche Umsetzung angemahnt.

Überflutungsflächen

Hochwasserschutz bedeutet nicht zwangsläufig, dass es keine Überflutungen geben darf. Im Gegenteil. Laut der Hochwasserschutzkonzeption werden im Stadtgebiet all jene Flächen im Hochwasserfall überflutet, die kein oder nur ein sehr geringes Schadenspotenzial aufweisen. Dies trifft zum Beispiel auf die Mühlwiesen entlang der Talstraße, die Parkplatzfläche des Aldi-Markts entlang der Gartenstraße vor der Einmündung in die Martin-Dietrich-Allee und den Sportplatz an der Eugen-Adolff-Straße zu. Das Überflutungsvolumen dieser Flächen ist nicht erfasst, da sie kein zusätzlich geschaffenes Retentionsvolumen darstellen. Trotzdem reduzieren sie im Falle eines Hochwassers den Pegelstand.

Davon zu unterscheiden ist der zusätzlich geschaffene Retentionsraum mit 3000 Kubikmeter Volumen im Bereich der Oberen Toswiesen entlang der Martin-Dietrich-Allee. Hier hat die Stadt ein Retentionsraumregister erstellt, das es erlaubt, Retentionsraum, der durch genehmigte Bauvorhaben verloren geht, an dieser Stelle nachzuweisen. Es funktioniert vergleichbar wie ein Konto, auf das zunächst eingezahlt wird (neuer Retentionsraum) und von dem bei Bedarf abgehoben werden kann (verloren gegangener Retentionsraum).

Raue Rampe

Noch existiert das Biegelwehr, etwa auf halber Länge der Talstraße. Im Sommer nächsten Jahres soll es durch eine sogenannte raue Rampe ersetzt werden. Die Fertigstellung dieses Bauwerks ist für 2021 geplant. Sinn und Zweck der Maßnahme ist die Herstellung der Durchgängigkeit der Murr, insbesondere für Fische und deren Nahrungstiere. Dies ist auch eine Vorgabe der Wasserrahmenrichtlinie des Bundes. Die raue Rampe wird so ausgebildet, dass sie im Hochwasserfall kein Hindernis darstellt. Zudem wird darauf geachtet, dass der Mühlkanal, der parallel zur Talstraße verläuft, weiterhin durchflossen wird. Dies ist wichtig, weil sich in der Stadtmühle noch ein Wasserkraftwerk befindet, das mit einem Wasserrecht versehen ist, und weil der Kanal und die Stadtmühle unter Denkmalschutz stehen.

Die Kosten für die Herstellung der „Stromschnelle“ belaufen sich auf rund 600000 Euro. Allerdings wird diese Maßnahme mit einem Zuschuss in Höhe von rund 70 Prozent durch das Land Baden-Württemberg gefördert.

Hochwasserangepasstes Bauen

Die Obere Walke und das Gebiet flussabwärts der Etzwiesenbrücke sind sogenannte Bereiche für hochwasserangepasstes Bauen. Das heißt: Dort muss so gebaut werden, dass im Falle eines Hochwassers keine Schäden an Objekten entstehen. Und das muss selbst für ein solch gigantisches Hochwasser gelten, wie es rechnerisch nur einmal in 100 Jahren vorkommt, die Fachleute sprechen dann von einem HQ 100.

Was bedeutet dies für den Bauherrn? Die Erdgeschosse der Bauwerke müssen so hoch zu liegen kommen, dass die Fluten nicht eindringen können. Auch muss das Geländeniveau im Bereich der künftigen Bebauung entsprechend angepasst werden. Zudem müssen Bereiche definiert werden, die im Hochwasserfall gefahrlos überschwemmt werden können.

Der gesamte Planbereich Obere Walke umfasst 4,9 Hektar. Davon sind 3,1 Hektar Nettobauland (ohne Erschließungsflächen) und 1,1 Hektar Grün- und Retentionsflächen. Geplant ist ein gemischt genutztes Quartier aus Wohnen, Arbeiten, Versorgung und Dienstleistungen.

Das Quartier West (IBA’27-Projektgebiet) umfasst insgesamt rund 15 Hektar (inklusiv der Flächen der Murr). Die künftige Nutzungsverteilung steht noch nicht fest. Sie soll Ergebnis eines städtebaulichen Wettbewerbs sein, der 2020 durchgeführt werden soll. Angestrebt ist ebenfalls ein gemischt genutztes Quartier aus Wohnen, Arbeiten, Versorgung, Freizeiteinrichtungen und Dienstleistungen.

Schutz der Stadtteile

Auch wenn der innerörtliche Hochwasserschutz abgeschlossen ist, kann das Thema noch nicht ad acta gelegt werden. Dann gilt es, die Stadtteile zu sichern. Schon 2017 gab es eine erste Information der Ortschaftsräte von Maubach, Waldrems und Heiningen über die Hochwasserschutzkonzeption für die südlichen Stadtteile. Vorgestern erfolgte im Rahmen einer gemeinsamen Ortschaftsratssitzung eine Information über die fortgeschriebene Konzeption. Nächstes Jahr soll die Entwurfsplanung konkretisiert werden. Wenn alles klappt, dann können die Einzelmaßnahmen laut Setzer zwischen 2023 und 2025 anhand einer noch zu erarbeitenden Prioritätenliste umgesetzt werden.

Starkregen

Hochwasser ist die eine Gefahr. Aber in Zukunft wird aufgrund des Klimawandels ein weiteres Problem immer öfter auftreten, an das viele heute noch nicht so wirklich denken: Starkregen. Davon sind auch Bürger betroffen, für die das bisher undenkbar war. Etwa solche, deren Häuser direkt an Äcker oder Berghänge anschließen.

Das Biegelwehr wird im nächsten Sommer zu einer rauen Rampe umgebaut.

© Pressefotografie Alexander Beche

Das Biegelwehr wird im nächsten Sommer zu einer rauen Rampe umgebaut.

Info
Heute Bürgerdialog

Unter dem Motto „Lebensader Murr – gemeinsam schützen, was uns wertvoll ist“ lädt die Stadtverwaltung heute um 18 Uhr zu einem Bürgerdialog ins Technikforum Backnang, Wilhelmstraße 32, ein. Es geht um die zentralen Themen des Hochwasserrisikomanagements. „Gegen die Launen der Natur können wir nicht viel tun. Wir können und wollen aber unsere Bevölkerung und Wirtschaft bestmöglich vor den Gefahren schützen und transparent machen, wie wir das tun“, so Setzer. Alle Betroffenen und Interessierten sind eingeladen, sich im Rahmen dieses interaktiven Bürgerdialogs über Strategien und Maßnahmen zum Schutz vor Überflutungen zu informieren, Fragen und Anliegen einzubringen sowie mit den Referenten des Abends zu diskutieren. Die Stadtverwaltung präsentiert eine Zwischenbilanz zu der seit 2016 umgesetzten dreistufigen Hochwasserschutzkonzeption und gibt einen Ausblick. Dabei wird das Thema Starkregen eine besondere Rolle spielen.

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Erstellt:
13. November 2019, 06:00 Uhr

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